Projektgründung mit dem Kompass

Projektgründung mit dem Gemeinschaftskompass

eine Orientierungshilfe

Eva Stützel

Update September 2022

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Ein Kompass für Gemeinschaftsgründung

Immer wieder fragen Menschen, die gemeinschaftliche Projekte gründen wollen, an: Was ist der richtige Weg für eine Projektgründung? Welche Schritte sind wichtig und was braucht es wann? Auch wenn es keine „einzig gültigen“ Rezepte gibt, kann man aus der Erfahrung vieler erfolgreicher Gemeinschaftsprojekte Hinweise zum Vorgehen ableiten. Der „Gemeinschaftskompass“, die von uns entwickelte Orientierungshilfe für gemeinschaftliche Projekte beinhaltet die Essenz aus der Gründung und Geschichte des Ökodorfs Sieben Linden, sowie die von vielen Beratungen anderer Projekte.

Dieser Artikel hat einen Focus auf der Gründung von Gemeinschaftsprojekten, in denen Menschen miteinander leben wollen – Lebensgemeinschaften und gemeinschaftliche Wohnprojekte. Ich bin davon überzeugt, dass die wesentlichen Aspekte jedoch für alle Projekte gelten, in denen Menschen gemeinschaftlich etwas erreichen wollen – sei es eine Lebensgemeinschaft, oder eine politische oder sozio-kulturelle Initiative, eine BürgerEnergiegenossenschaft, ein Dorfladen, ein Urban Gardening-Projekt oder eine Transition Town Initiative.

Die Kernaussage des „Gemeinschaftskompasses“ ist: Behaltet bei der Realisierung Eurer Projekte stetsalle sieben Aspekte des Kompass im Blick!

Individuen: Für erfolgreiche gemeinschaftliche Projekte braucht es Individuen, die bereit sich, auch an sich selber zu arbeiten – und die die Herausforderungen, die sich aus den zwischenmenschlichen Themen ergeben, als Lernchance sehen!

Gemeinschaft: Es braucht einen bewussten Fokus auf die Pflege des Miteinanders, eine bewusste Kommunikationskultur und konstruktiven Umgang mit Konflikten.

Intention: Eine Klarheit in der Ausrichtung, die Frage, was man miteinander will, welche gemeinsamen Ziele da sind, und wo bewusst Vielfalt gewünscht ist.

Struktur. Eine der Intention angemessene Struktur, die transparent und veränderbar ist, und die Entscheidungen leicht und kontrollierbar macht.

Praxis.Es braucht Kompetenz in allen Bereichen, in denen eine Initiative aktiv ist, und einen bewussten Blick auf Geldflüsse und Arbeitsorganisation.

Ernte: Die Ernte steht für das Innehalten und Auswerten, das Würdigen des Erreichten und aller Beiträge, die dazu geführt haben, als Erinnerung an die Bedeutung von Wertschätzung und Feedback.

Welt: Konstruktive Beziehungen zum “Rest der Welt”, eine Kompetenz in den das Projekt betreffenden juristischen Fragen, und Netzwerke stärken jedes Projekt.

Im Zentrum des Modells steht die Dualität des Individuums in Gemeinschaft – ohne eine Pflege dieser Basis kann kein gemeinschaftliches Projekt gedeihen.

Und während in laufenden Projekten ein andauernder Focus auf alle Aspekte sinnvoll ist, gibt es für Gründungsprojekte durchaus eine sinnvolle Reihenfolge: Von Individuum zu Gemeinschaft zu Intention, über Struktur und Praxis – und in allen Phasen sollten alle Handlungsebenen (Individuen, Gemeinschaft, Projekt und Welt) im Blick gehalten werden – und darf die Ernte nicht vergessen werden!

Mit diesem Artikel stelle ich einen idealtypischen Weg zur Gründung von Gemeinschaftsprojekten vor, der sich aus dem Gemeinschaftskompass ergibt.

1. Jede Initiative beginnt als Traum eines Einzelnen.

Hier hilft es, sich über seine eigenen Träume und seine eigenen Motivationen im klaren zu werden. Warum will ich das tun, was ich tue? Es gibt stets eine offensichtliche Motivation, aber interessant sind auch die versteckten, hintergründigen Motivationen. Will ich eine Gemeinschaft gründen, um meine Ehe zu retten oder weil ich mich einsam fühle? Will ich eine Transition Initiative starten, weil ich mich in meiner Nachbarschaft stärker verbinden will? Suche ich Sinn in meinem Leben und engagiere mich deshalb gegen Atomkraft, Massentierhaltung oder CO2-Verpressung? Suche ich eine sinnhafte Geldanlage und gründe daher eine BürgerEnergieGenossenschaft? Es ist nichts schlechtes an ganz persönlichen Motivationen. Aber wenn man sich selber und anderen diese Motivationen nicht eingesteht, führt das oft zu Schwierigkeiten im Laufe des Prozesses.

2. Traum mit einer ersten Gruppe teilen.

Es hat sich bewährt, als erste Gruppe, die gemeinsam den Traum teilt, eine Gruppengröße von 32 -8 Personen zu nehmen. In einer derartigen Gruppengröße ist es möglich, noch zu einem tiefen Konsens über die gemeinsame Ausrichtung zu kommen, und doch ausreichend Heterogenität zu finden, um ein gesundes Gruppenwachstum zu ermöglichen.

Wie komme ich zu dieser Gruppe? Oft genug findet sie sich im Freundeskreis, in der Food-Coop, oder ähnliches. Ganz gezielt Menschen ansprechen, mit denen wir uns die Realisierung des Traumes vorstellen, hat oft viel Erfolg. Wichtig ist, Menschen anzusprechen, von denen man annimmt, dass sie die Grundwerte, die den Gründern für das Projekt vorschweben, teilen. Eine genaue Formulierung dieser Grundwerte von Seiten der Initiatoren ist dabei hilfreich. Wenn wir in der Lage sind, aus einem großen Kreis von Menschen, die wir kennen, gezielt auszuwählen, wen wir ansprechen, dann sollten wir uns bei der Frage, wen man anspricht, schon frühzeitig daran orientieren, dass wir Menschen ansprechen, zwar eine ähnliche Ausrichtung, aber trotzdem genügend Diversität und unterschiedliche Kompetenzen mitbringen.

Um ein Projekt zu realisieren, brauchen wir verschiedene Kompetenzen: Menschen, die einen visionären Blick haben, Menschen mit einer Stärke im Achten auf Strukturen, Menschen, die Erfahrung im Umgang mit Geld, in Finanzakquise und ähnlichem mitbringen, Menschen, deren Stärken im konkreten Tun liegen, und Menschen, die Erfahrung mit Gemeinschaftsprozessen und sozialen Tools in die Gruppe einbringen können.

Sind in unserer Anfangsgruppe auch Menschen dabei, die Impulse für die persönliche Ebene geben können, Menschen, denen es ein inneres Bedürfnis ist, die Gemeinschaft zu pflegen, Menschen mit starker Sachorientierung, die das Projekt im Äußeren an vorderste Stelle stellen werden, und Menschen, die eine Verbindung zur Gesellschaft, zu den Autoritäten, die wir brauchen, um das Projekt zu realisieren, darstellen?? Eine ideale Startgruppe vereinigt all diese Qualitäten. In der Realität wird das selten der Fall sein – dann ist einfach wichtig, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass diese Qualitäten noch ausbaufähig sind, und entweder durch Entwicklung der Einzelnen, durch Training der Gesamtgruppe oder durch Integration neuer Menschen diese Qualität mit in das Projekt zu bringen.

Und natürlich hängt es an der Ausrichtung der Gruppe, wie stark wirklich alle Aspekte vertreten sein müssen – eine Bürgerinitiative, die in erster Linie gemeinsame, ehrenamtliche Aktivitäten plant, braucht kaum ökonomisches Wissen, eine Energiegenossenschaft kann auch langfristig erfolgreich sein ohne Persönlichkeitsentwicklung der Mitglieder … dennoch bin ich überzeugt, dass auch Energiegenossenschaften oder ähnliche Projekte, die langfristig mehr wollen als eine gemeinsame Anlage verwalten, dann besser funktionieren, sich konstruktiv weiterentwickeln und nach außen strahlen, wenn es in der Gruppe auch eine bewusste Pflege des Miteinanders der Individuen in Gemeinschaft gibt.

Ein wunderschönes Werkzeug, um ein Projekt zu verwandeln vom „Traum eines Einzelnen“ zum „Projekt einer Gruppe“ ist der Traumkreis aus dem Dragon Dreaming, das von John Croft entwickelt wurde.

Gemeinschaftsgründung mit dem Kompass John Croft nennt diesen Moment des Traumkreises „das Ostern“ des Projektes. Es ist der Moment, in dem das Projekt als Projekt eines Einzelnen stirbt und als Projekt der Gruppe wieder aufersteht. Dies ist ein ganz wichtiger Schritt in der Entstehungsgeschichte eines Projektes. Wenn er nicht gelingt, dann hängt das Projekt, obwohl es scheinbar eine Gruppe gibt, oft einfach an der Gründungsperson, die mit ihrer Aktivität das Projekt trägt.

Wir bewegen uns während einer Projektgründung langsam durch die verschiedenen Aspekte des Kompass. Ein kritischer Punkt in jedem Projekt ist der Moment, wo die drei Aspekte „Individuen“, „Gemeinschaft“ und „Intention“ sich berühren und dem Projekt eine gemeinsame Ausrichtung geben.

3. Ausrichtung formulieren

3.1. Die „Essenz des Projektes“

Aus den Träumen aller ist es sinnvoll, das übergreifende Ziel des Projektes zu formulieren, die Kernvision des Projektes. Idealerweise findet man dafür einem klaren, einprägsamen Satz. Dieses Ziel sollte so kurz und knackig formuliert sein, dass alle Projektmitglieder es selbstverständlich erinnern und jede*r auf die Frage, was das Ziel des Projektes ist, dasselbe antwortet.

3.2. Das Visionspapier

Diese kurze Formulierung wird aber natürlich den vielschichtigen Träumen der Gruppenmitglieder nicht wirklich gerecht. Zur Formulierung der Ausrichtung gehört auch eine Auflistung der wichtigsten Details, die sich die Gründungsmitglieder für das Projekt vorstellen. Hierfür gibt der Traumkreis die Grundlage, und es ist wichtig, dass die Träume von allen Gruppenmitgliedern hier ihren Platz finden.

Die ausführliche Beschreibung des Ziels ist eine Ideensammlung. Sie ist in der Regel weder vollständig noch verbindlich. Welche Aspekte wirklich verwirklicht werden, hängt im Realisierungsprozess von vielen Faktoren ab. Die ausführliche Beschreibung spannt einen großen, lebendigen Rahmen auf, der klarmacht, was geschehen kann.

Gleichzeitig braucht es aber auch in dieser frühen Phase eine Verständigung auf eine Priorisierung: Wofür wollen sich alle gemeinschaftliche engagieren?

3.3. Konkrete Festlegungen: Eckpunkte und Konkrete Ziele.

3.3.1. Eckpunkte

Gerade für Lebens- und Arbeitsgemeinschaften ist es wichtig, sich darauf zu verständigen, was in dem Projekt anders laufen soll als im normalen Alltag so üblich ist.

„Intentionale Gemeinschaften“, die gemeinsame Werte haben, zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie für die Realisierung ihrer Werte sich gemeinsame Vorgaben machen, die in den Augen der meisten Gemeinschaftsmitglieder keine Einschränkung, sondern ein Gewinn sind – aber die von ihren Mitgliedern etwas erwarten, was im normalen Leben nicht unbedingt selbstverständlich ist. Diese Vorgaben sollten explizit gemacht werden, ich nenne sie „Eckpunkte“.

Eine Aussprache über derartige Erwartungen an die Gemeinschaftsmitglieder ist ein ganz wesentlicher Schritt in der Projektgründung: Was erwarten wir von allen Mitgliedern? Wenn dies nicht im Vorfeld geklärt wird, stellt man später fest, dass Dinge, die die einen für selbstverständlich gehalten haben, für die anderen ein No-Go sind. Für Lebensgemeinschaften sind wichtige Faktoren dabei:

– Was erwarten wir an Input (Arbeit, Geld) von den Mitmachenden?

– Welche Verbindlichkeit an der Teilnahme an gemeinschaftlichen Veranstaltungen erwarten wir?

– Erwarten wir eine gemeinsame Haltung der Mitmachenden in Bezug auf soziales Miteinander? Welche ist das?

– Wie gemeinschaftlich soll die Ökonomie organisiert sein? (Wohneigentum, Genossenschaftliches Eigentum, Genossenschaftliches Eigentum mit gleichmäßigem Einbringen von Kapital oder Ausgleich von Kapitalunterschieden?, Genossenschaftliches Eigentum und gemeinsames solidarisches Wirtschaften über Wohnen hinaus? Gemeinsame Alltagsökonomie? Gemeinsame Vermögensökonomie?)

– Öko-Standards und Sauberkeitsstandards für gemeinschaftliche Bereiche?

– Tierhaltung? Wenn Tiere dabei sind – Wo sind sie willkommen und wo nicht?

– Ernährung: Wenn es gemeinsame Mahlzeiten gibt – gibt es hierfür Einschränkungen in Hinblick auf tierische Produkte / Bio-Qualität, etc. oder nicht?

– Grundfragen der Kindererziehung (Erziehungsphilosophie, Grenzen, Stellenwert von Familie und Eltern, Erwartungen an die Nicht-Eltern, Einmischmöglichkeit der Eltern, Schulfrage)

Es kann an diesem Punkt immer wieder vorkommen, dass es keine Einigung über wesentliche Punkte gibt. Vielfalt kann eine große Qualität eines Projektes sein – wenn akzeptiert wird, dass die verschiedenen Sichtweisen im Projekt Raum haben. Zu hochemotionalen Wertethemen, wie z.B. vegane oder fleischhaltige Ernährung, Tierhaltung, etc. sollte entweder eine Festlegung getroffen oder bewusst festgestellt werden, dass Vielfalt erwünscht ist.

Anderenfalls kann das Ausklammern eines strittigen Themas die Basis für einen langjährigen Konflikt legen. Daher kann es manchmal hilfreich sein, sich bewusst zu machen, dass es noch ein fließender Prozess der Gruppenfindung ist, und dass es durchaus auch schön sein kann, wenn aus einer Initiative mehrere Projekte entstehen. So bedeutet eine Teilung der Gruppe, oder ein Festlegen auf eine Ausrichtung, die nicht alle einschließt, kein Scheitern, sondern eine bewusste Fokussierung, die die Chancen auf Erfolg deutlich erhöht, und die Vielfalt der Projekte bereichert. Wichtig ist, sich dabei bewusst zu machen, dass dieses positive Ausrichten auf ein Ziel, das vielleicht nicht alle teilen, nicht gegen die Personen gerichtet ist, die dieses Ziel nicht teilen, und dass eine Teilung auf eine wertschätzende Art passiert, dass freundschaftliche Bande erhalten bleiben, und die Menschen, die ja viele Ziele teilen, auch weiterhin kooperieren.

Dann können mehrere, vernetzte Projekte aus einer Initiative entstehen.

3.3.2. Konkrete Ziele

In dem Visionspapier und den gemeinsamen Träumen aller Projektmitglieder sind sie bereits versteckt: Die konkreten, prioritären Ziele des Projektes. Allerdings ist es in der Planungsphase wichtig, zu differenzieren, was für alle gemeinsam prioritär und nicht-verhandelbar ist. Ein Traumkreis und ein Visionspapier enthält in der Regel beides: die Träume der Einzelnen, die als „Ideen“mit dem Projekt verbunden sind, aber für die nicht selbstverständlich das finanzielle und tatkräftige Engagement von allen zu erwarten ist – und die wirklich gemeinsam getragenen Ziele. Welches sind die konkreten gemeinsamen Ziele, für die sich alle Projektmitglieder mit ihren Ressourcen verbindlich engagieren? Diese Ziele klar herauszustellen, mit einem Zeithorizont und Budget zu versehen, und für alle deutlich zu machen, ist ein wesentlicher Schritt in der Projektplanung.

Es ist sinnvoll, diese Ziele „smart“ zu beschreiben: Spezifisch, Messbar, Attraktiv, Realistisch und Terminiert. An diesen Zielen misst sich die Initiative. Klare smarte Ziele machen auch deutlich, wann ein Ziel erreicht wurde – ein wichtiger Anlass zum Ernten!

4. Bewusster Aufbau einer Gemeinschaftskultur.

Der Austausch zu gemeinsamen Werten und Visionen, zu dem, was uns wie wichtig ist, ist bereits ein wesentlicher Aspekt der Gemeinschaftsbildung. Wenn die Gruppe in einem gemeinsamen Prozess eine Vision formuliert hat, ist es ein guter Zeitpunkt, jetzt noch einen Schritt weiter zu gehen Richtung Aufbau eines wirklichen Gemeinschaftsgefühls und einer tragenden Gemeinschaftskultur.

Die Pflege der Aspekte „Individuen in Gemeinschaft“ ist zentral für die Projektentwicklung. Daher sollte sich jede Gruppe in einem für sie angemessenen Rahmen Zeit nehmen, dieses Miteinander wirklich zu pflegen. Die soziale Kultur der Gründungsgruppe prägt ganz maßgeblich die soziale Kultur des späteren Projektes. Es ist ein grober Fehler, anzunehmen, dass Gemeinschaft nach dem Einzug in ein Projekt entsteht – sie entsteht in dem Prozess der Vorbereitung. Wenn bereits im Vorbereitungsprozess keine Gemeinschaft entsteht, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie danach entsteht.

Daher ist es sinnvoll, in allen Zeiten der Projektentwicklung einen Fokus auf Individuen und Gemeinschaft zu haben und den Aufbau einer bewussten Kommunikationskultur zu pflegen. Sich als Gruppe Tage oder Wochenenden Zeit zu nehmen, um in tieferen Kontakt miteinander zu kommen, sich als ganze Menschen mit Licht- und Schattenseiten zu zeigen und wahrzunehmen, einen Raum zu schaffen, in dem Gefühle sein dürfen und nicht nur die Masken gezeigt werden, ist für die Entstehung von tieferer Gemeinschaft unerlässlich.

Ein funktionierendes Miteinander kann Schwächen in den anderen Themenfeldern manchmal kompensieren – während eine Schwäche im Miteinander ein Projekt immer nachhaltig schwächt und auf Dauer in der Regel zum Scheitern bringt. Der größte Schatz jedes Gemeinschaftsprojektes ist es, wenn alle Individuen einen guten Platz in der Gemeinschaft haben – daher sollte dieser Schatz auch gehegt und gepflegt werden! Und diese Pflege des Gemeinschaftswesens sollte den Gruppen auch wert sein, dafür bewusst Zeit und evtl. auch Geld für Supervision und Prozessbegleitung zu investieren.

In der Gemeinschaftsszene sind dazu viele verschiedene Wege und Werkzeuge entwickelt worden, mit dem Ziel, einen Vertrauensraum zu schaffen, einen Raum, in dem wir ein tiefes Verständnis füreinander und für die Unterschiedlichkeiten entwickeln können.

Allen Ansätzen gemeinsam ist ein Menschenbild, das die Annahme hat, dass jeder Mensch liebenswert ist, und dass es Vertrauen schafft, wenn wir uns als ganze Menschen – auch mit den Schattenseiten – wahrnehmen können. Jeder Mensch hat Bedürfnisse, die er / sie befriedigen möchte, und das sind neben den materiellen Grundbedürfnissen und dem Bedürfnis nach Unversehrtheit:

– das Bedürfnis nach Sinn,

– das Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe,

– das Bedürfnis nach eigener Weiterentwicklung.

Gemeinschaften haben das Potential, diese Bedürfnisse zu erfüllen, und sie bieten durch das intensive Zusammensein ein großes Lernfeld für soziale Themen. Methoden, die sich zur Pflege einer achtsamen, offenen, konstruktiven Gemeinschaftskultur bewährt haben, sind zum Beispiel regelmäßige Sharings, „Circle Way“, „Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck“, „Forum“ oder WIR-Forum und Arbeit nach den Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation.

Die Pflege einer konstruktiven Gemeinschaftskultur ist eine fortlaufende Angelegenheit – sie ist nicht nur in diesem Moment der Projektentwicklung notwendig, sondern regelmäßig.

5. Die richtigen Leute an die richtigen Positionen setzen und Unterschiede wertschätzen.

Zur Pflege der Gemeinschaft gehört es auch, darauf zu achten, dass alle Individuen einen guten Platz in der Gemeinschaft finden. Es gibt starke gruppendynamische Implikationen des Kompass für gemeinschaftliche Projektentwicklung:

Jede Gemeinschaft besteht aus Individuen, und jede Gemeinschaft ist dann erfolgreich, wenn die Individuen an den Plätzen sein dürfen, an denen sie ihr persönliches Potential entfalten und weiter wachsen können.

Um ein Projekt erfolgreich zu realisieren, braucht es Menschen mit Qualitäten in allen verschiedenen Aspekten – und gerade diese Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit reiben sich auch gerne.

Es gibt die einen, die gerne anpacken, und die finden, dass sich die Gruppe viel zuviel in Rederunden aufhält. Die Menschen, die darauf achten, dass die Struktur eingehalten wird, und die Menschen, denen wichtig ist, locker zu sein, und gemeinsam zu feiern. Oft genug erwächst Konkurrenz und Konflikte zwischen diesen verschiedenen Qualitäten.

Sich bewusst zu machen, dass nur die verschiedenen Qualitäten zusammen das Orchester ergeben, dass die Symphonie des Gemeinschaftsprojektes spielen kann, ist eine wesentliche Aufgabe des Kompass.

Für die Aufgabenverteilung in Gruppen kann es hilfreich sein, Hüter für die sieben verschiedenen Aspekte einzuführen.

Mögliche Aufgaben der Hüter*innen der Bereiche:

Gemeinschaft: Moderation von Gruppengesprächen, Achten auf die Energie, auf angenehmes Gesprächsklima achten, Anregen von Supervision, Mediation bei Konflikten, etc.

Intention: Darauf achten, dass formulierte Intention nicht im Alltag vergessen wird, Vorstellen der gemeinsamen Ausrichtung für Neue, Anpassen der formulierten Intention an die Realität.

Struktur: Achten auf das Halten der Strukturen und auf Anpassungsnotwendigkeiten, Tagesordnung, Protokollführung, Verantwortung für die Rechtsträger

Praxis: Organisation von gemeinschaftlichen Arbeitsaktionen.

Ernte: Darauf achten, dass Zwischenerfolge gesehen und gefeiert werden, dass Projekte ausgewertet werden, dass Wertschätzung gegeben wird.

Welt: Netzwerken, Außendarstellung, Lobbyarbeit.

Individuen: Focus auf Persönliche Entwicklung der Einzelnen.

Wenn deutlich wird, dass Menschen mit unterschiedlichen Meinungen einfach auch unterschiedliche Qualitäten einbringen, die alle wichtig sind, dann entsteht ein konstruktives Miteinander und die erarbeiteten Lösungen werden besser als die Lösungen Einzelner sein könnten. Dann beginnt kollektive Weisheit.



6. Struktur entwickeln

Ein wichtiger Schritt zum Aufbau eines gemeinschaftlichen Projektes ist es, eine Struktur zu entwickeln, die zur Gemeinschaftskultur und den in der Intention formulierten Werten der Gemeinschaft passt.

Organigramm Ökodorf Sieben Linden Die Struktur umfasst sowohl interne Absprache und Gepflogenheiten zur Entscheidungsstruktur und Struktur von Treffen, wie auch die reellen Rechtsformen des Projektes.

Diese Strukturelemente sind stark beeinflusst von der Gruppen- und Kommunikationskultur, der Art, wie miteinander gesprochen und umgegangen wird. Gleichzeitig beeinflusst langfristig die Strukturebene sehr stark die Gruppenkultur und die Zufriedenheit in der Gruppe. Daher hat die festgelegte Struktur langfristig einen sehr prägenden Charakter auf das Gemeinschaftsgefüge.

6.1. Grenzen der Gruppe

Gerade in Anfangsphasen von Gruppen ist oft nicht klar, wer eigentlich dazugehört und wer nicht. Was für eine Bürgerinitiative eventuell zweitrangig sein kann – wenn jemand nur zweimal da ist, eine Aktion initiiert und dann wieder verschwindet, kann es ja durchaus passen – ist für Gemeinschaftsinitiativen, die um die Frage ringen, wie sie in Zukunft gemeinsam miteinander leben wollen, eine ganz wesentliche Frage.

Hier ist es wichtig, zu einem bestimmten Zeitpunkt festzulegen, wer die Gruppe ist, die die Verantwortung und damit auch die Entscheidungshoheit hat. Menschen, die gerade mal reinschnuppern, und Menschen, die nicht bereit sind, auch finanzielle Verantwortung zu übernehmen, dürfen gerne ihre Ideen und Gedanken beitragen, da sie oft wichtige Aspekte beinhalten – wenn es um die tatsächliche Festlegung geht, ist es sinnvoll, dass die Gruppe, die das Projekt wirklich trägt, die Entscheidungen trifft. Oft ist die Übernahme von finanzieller Verantwortung ein Punkt, der hier die verbindlichen von den unverbindlichen Teilnehmenden trennt. Wenn ein Projekt „Solidarische Ökonomie“ als hohen Wert dabei hat, so wäre hier der erste Schritt, die Werte in die Praxis umzusetzen, indem z.B. für die Beteiligung keine absoluten Beiträge zu wählen, sondern Beiträge entsprechend der ökonomischen Kapazität der Gruppenmitglieder (z.B. 1% des Einkommens als monatlichen Beitrag, Übernahme eines Anteils an den Vorentwurfskosten für ein Haus entsprechend der Größe meiner geplanten Wohnung, oder ähnliches).

Spätestens zu einem Zeitpunkt, wo angefangen wird, nach Grundstücken zu suchen, und Geld für Architektenentwürfe in die Hand zu nehmen, sollte klar sein, wer die verbindlich tragende Gruppe ist, und die Entscheidungen trifft.

6.2. Rechtsformen und Verträge

Eine essentielle Frage, die sich vor der Realisierung eines Gemeinschaftsprojektes für jedes Projekt, das eine Immobilie braucht, stellt, ist die nach der genauen ökonomischen und rechtlichen Organisation. Dazu gehört ganz primär die Rechtsform des Projektes, aber auch die Frage, wie sie ausgestaltet ist (Satzungsformulierungen) und wie die Verträge mit den Teilnehmenden ausgestaltet werden. Hier ist der Ort der Begegnung zwischen Intention, Welt und Struktur.

Die Wahl der Rechtsform und Satzungsgestaltung ist keine langweilige Formalie. Hier ist eine bewusste Beschäftigung mit den Zielen – wie soll mit Geld umgegangen werden, wie stark sollen Individualinteressen das ganze beeinflussen können – eine grundlegende Voraussetzung, um die passende Form zu finden.

Fragen, die wir uns für die Entscheidung für eine Rechtsform und deren Satzung stellen sollten, sind folgende:

– Wieviel Privateigentum im Projekt ist erwünscht?

– Wieviel privates Verfügungs- und Entscheidungsrecht über den Wohnraum ist gewünscht?

– Sollen Immobilien von Einzelnen vererbt oder verkauft werden können?

– Sollen die Ziele im Projekt so dauerhaft festgelegt werden, dass die Gruppe sie nicht mehr verändern kann?

– Soll ein Ausgleich zwischen Menschen mit mehr und mit weniger Geld geschehen?

– Wie werden Ausgaben für Kinder finanziert?

– Wie wollen wir entscheiden?

– Welche Entscheidungen sollen von welchem Gremium getroffen werden?

– Wie sind die Austrittsregelungen? Wie bekommen Austretende ihr Geld zurück?

– Wie wollen wir „wirtschaften“? Wo kommt das Kapital her? Von was aufgenommene Kredite / Anteile zurückzahlen?

Die Frage der Rechtsform ist der Bereich, in dem immer wieder Fehler gemacht werden, indem idealistische Gruppen davon ausgehen, dass es auch möglich wäre, dass man „pro forma“ Privateigentum an Immobilien haben kann, aber „eigentlich“ doch gemeinsam Eigentümer ist. Viele scheuen vor Rechtsformgründung und Kauf mit einer juristischen Person zurück, und kaufen dann mit einer oder mehreren Privatpersonen.

Dies ist langfristig immer ein Fehler, wenn man eine Gemeinschaft von gleichberechtigten Mitgliedern aufbauen will. Denn Eigentümer und Mieter sind nie gleichberechtigt, denn sie tragen sehr unterschiedliche Verantwortung. Es kann ein paar Monate, ein paar Jahre oder vielleicht sogar ein paar Jahrzehnte gutgehen – spätestens beim Tod der Eigentümer, oft aber früher, wird die Inkongruenz von formalem und gefühltem Eigentum Probleme bereiten. Es ist in solchen Fällen erfolgversprechender, sich bewusst zu machen, dass die Rollen verteilt sind – dass es Eigentümer und Mieter gibt – dann kann auch ein gutes Miteinander entstehen, aber mit klar verteilten Macht-und Verantwortungs-Verhältnissen. Noch sinnvoller ist in der Regel die Gründung einer gemeinschaftlichen Rechtsform für das Immobilieneigentum.

Die Eigentumsfrage sollte unbedingt vor Kauf einer Immobilie geklärt werden! Jede Veränderung in den Eigentümerstrukturen erfordert sonst wieder einen neuen Kaufvertrag und damit Notars- und Grunderwerbssteuerkosten. Je nach Grundstückskosten sind das leicht tausende bis zehntausend Euro. Daher lohnt es sich unbedingt, diese Frage vorher mit kompetenter Beratung zu durchdenken. Für viele Fälle ist eine Genossenschaft eine sinnvolle Lösung, hier bietet die Internetseite www.genossenschaftsgruendung.de wertvolle Hilfe.

Die Wahl und Gründung der Rechtsform ist ein entscheidender Schritt in der Realisierung eines Projektes.

Die Erfahrung zeigt, dass Projekte mit einer Rechtsform, die von Personen unabhängig ist (also Genossenschaft, Verein, Stiftung, GmbH) in der Regel länger bestehen als Projekte, die an Personen gebunden sind, da ein Wechsel der Personen hierbei viel einfacher ist – und dies einfach eine Realität von gemeinschaftlichen Projekten ist. Auch in florierenden gemeinschaftlichen Projekten ändern sich die Lebensperspektiven und Bedürfnisse – und eine gewisse Fluktuation ist daher vollkommen normal und zu erwarten.

6.3. Organisation von Treffen – Gruppenkultur

Ein wichtiger Teil der Struktur ist die Frage, wie Gruppentreffen ablaufen. Gruppentreffen können sehr unterschiedliche Qualität haben – sie können inspirierende gemeinschaftliche Erfahrungen sein, auf die sich alle Beteiligten freuen, aber auch das Gegenteil. Und wenn Gruppentreffen in der Regel ermüdend und anstrengend sind, werden die Teilnehmenden schnell ausbrennen und das Projekt sich totlaufen.

Daher sollte einer Gestaltung von Gruppentreffen auf eine Art, dass sie für die Teilnehmenden auch eine persönliche Bereicherung sind, dass sie der Gemeinschaftsbildung und dem persönlichen Wachstum dienen, bewusste Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Je nach Art der Gruppe kann das sehr unterschiedlich aussehen. Wichtig für erquickliche Treffen sind in der Regel Moderatoren, die darauf achten, dass das Gruppentreffen produktiv ist, und die Integration von persönlichen Aspekten in die Gruppentreffen. Dies kann sehr unterschiedlich aussehen.

Die Integration von persönlichen Aspekten könnte z.B. so gestaltet sein, dass klar ist, dass die erste (halbe?) Stunde eines Treffens zum informellen persönlichen Austausch bei Getränken und Knabbereien ist, dass ein Treffen stets mit gemeinsamen Mitbringbüffet beginnt oder endet, oder auch mit einer kleinen Sharing-Runde, wie es den Gruppenmitgliedern gerade aktuell geht.

Oft ist es sinnvoll, dass im vorhinein klar ist, worüber im organisatorischen Teil geredet wird, oder zumindest bei Beginn dieses Teils die Tagesordnungspunkte gesammelt werden. Die Person, die das Treffen leitet, hat dann die Aufgabe, darauf zu achten, dass alle Punkte auch genügend Raum bekommen und dass es nicht zuviele Wiederholungen und Abschweifungen gibt.

Oft vernachlässigt wird die Kultur des Protokollschreibens. Wieviele Themen sind schon wiederholt von der gleichen Gruppe gewälzt worden, weil man sich nicht einig war, was nun am Ende beschlossen wurde. Ein Protokoll sorgt für Klarheit – auch oft während der Sitzung, wenn das Ergebnis nochmal für’s Protokoll zusammengefasst werden muss. Auch dient es der Integration Nicht-Anwesender, die durch das Protokoll informiert werden, was mit welchem Ergebnis diskutiert wurde.

Protokolle wiederum sind nur wirklich sinnvoll,wenn sie leicht lesbar und allen zugänglich sind – und wenn die Anwesenden prüfen, ob alles korrekt wiedergegeben wurde. Im Zeitalter der digitalen Vernetzung haben sich getippte Protokolle bewährt, die dann an alle Gruppenmitglieder versandt werden.

Protokollschreiber können oft auch die wichtige Rolle haben, Diskussionsergebnisse für alle noch einmal zusammen zu fassen (oder zusammenfassen zu lassen), oder darauf hinzuweisen, dass scheinbare Einigkeit noch nicht wirklich ein konkretes Ergebnis beinhaltet, mit Fragen wie: „Was kann ich jetzt dazu im Protokoll schreiben?“

6.4. Die Entscheidungsstruktur

sollte auch in dieser Phase festgelegt werden. Wer ist für welche Themen verantwortlich? Wie weit dürfen diese Verantwortlichen in ihrem Bereich auch entscheiden? Welche Entscheidungen trifft die Gesamtgruppe und auf welchem Weg? Diese Struktur wird sich im Laufe der Projektgeschichte immer wieder verändern, und das ist auch gut so.

Für wesentliche Aspekte in der Anfangsphase eines Gemeinschaftsprojektes ist es wichtig, Entscheidungen zu fällen, die breit diskutiert wurden, und mit denen alle Gruppenmitglieder leben können. Ob man dies im strengen „Konsens“ oder im sachlich orientierten „Konsent“ (der „Soziokratie“ oder „Holokratie“ entnommen) oder im Systemischen Konsensieren regelt, darüber sollten klare Festlegungen getroffen werden. Gerade in der Anfangsphase sind gemeinsame Entscheidungsfindungen, der Umgang mit unterschiedlichen Meinungen und die Prozesse, die daraus entstehen, wichtige gemeinschaftsbildende Prozesse, die zur Gruppenentwicklung dazugehören. Eine Gemeinschaft kann daran wachsen. Hier kommen Menschen, die gerne effizient zu Entscheidungen kommen, oft an ihre Grenzen. Allerdings geht bei einer effizienten Entscheidungsfindung auf der Sachebene der entscheidende Aspekt auf der Gemeinschaftsebene, sich ein tiefgreifendes gemeinsames Bild von dem Thema und den Meinungen dazu zu machen, manchmal verloren, so dass die scheinbar effiziente Entscheidungsfindung auf der anderen Seite sehr uneffizient sein kann, da sich die Gemeinschaft damit nicht weiterentwickelt, sondern „nur“ eine kurzfristige Lösung gefunden wird.

Dieses engagierte Plädoyer für Konsens oder Konsent der Gruppe in der Anfangsphase bedeutet keinesfalls, dass auch für große, ältere Projekte dies immer die beste Entscheidungsfindung ist. Die Grundphilosophie, Entscheidungen zu treffen, mit denen möglichst alle Gruppenmitglieder leben können, sollte erhalten bleiben. Je älter, größer und komplexer ein Projekt wird, desto wichtiger ist aber auch eine dezentrale und delegierte Entscheidungsfindung, und ein Akzeptieren der Tatsache, dass viele Menschen sehr selten genau einer Meinung sind. In großen, komplexen Projekten übersteigt der Aufwand, zu einem Konsens zu kommen, oft die positive Wirkung, die die Konsensorientierung in Gemeinschaften hat. Zur Gemeinschaftspflege gehört auch das Vertrauen, Entscheidungen zu delegieren und damit zu leben, dass Entscheidungen getroffen werden, die nicht meine Lieblingslösungen sind.

Größere Gemeinschaften sind daher gut beraten, Entscheidungsstrukturen zu suchen, die weiterhin einen Focus darauf legen, eine für alle Betroffenen gute Lösung zu finden, aber sich nicht unbedingt durch Einzelne blockieren zu lassen.

Dafür gibt es verschiedene Modelle, die Soziokratie oder auch die Holacracy hat beispielsweise mit dem Konsent und der Entscheidungsfindung in „Kreisen“ dafür ein brauchbares Werkzeug entwickelt. Aber auch Entscheidungsmodelle wie der mehrstufige Konsens, das Systemische Konsensieren oder Abstimmungen, bei denen eher eine qualifizierte Mehrheit gefragt ist als ein laues „Ja“ ohne Veto, haben sich in der Erfahrung bewährt. Es hat sich auch bewährt, bei Abstimmungen zu unterscheiden zwischen einem „Nein“ und einem „Veto“, wie es auch in einem mehrstufigen Konsens unterschieden wird. Ein Veto drückt aus, dass diese Person mit der Entscheidung nicht leben kann, und ist so eine Notbremse, die auf jeden Fall erfordert, dass die Gemeinschaft und der / die Vetoträgerin nochmal bewusst draufguckt, was die Ursache für das Veto ist, und ob es einen besseren Vorschlag gibt. Ob ein Veto dann dauerhaft blockiert, oder nur einen zwischengeschobenen neuen Reflektionsprozess in Gang setzt, sollte in den Entscheidungsstrukturen geregelt sein.

Entscheidungsdelegation in Kleingruppen

Generell ist es sinnvoll, mit zunehmendem Gruppenwachstum Entscheidungskompetenzen in kleinere Untergruppen zu delegieren. Diese Entscheidungsrahmen entwickeln sich meist implizit – es ist sinnvoll, sie auch explizit zu machen, und festzulegen, wann Einzelne, wann Kleingruppen selbständig entscheiden, und wann sie Entscheidungen für das Plenum nur inhaltlich vorbereiten.

Soziokratie als Organisations- und Entscheidungsmodell für Gemeinschaftsprojekte
Ein paar Stichworte dazu

  • Entscheidungen im Konsent (keine schwerwiegende, sachlich begründeten Einwände)
  • Organisation in überschaubaren Kreisen
  • Doppel-Verbindungen der Kreise erleichtern Informationsfluss und Diskussion
  • Offene, soziokratische Wahlen
  • Wichtig: Einbau von Feedback-Schleifen, Gültigkeitszeiträume für Beschlüsse, ständige Anpassung der Organisation durch Evaluierung.
  • Beschlüsse müssen nur „Gut genug für jetzt, und sicher genug, um es auszuprobieren“ sein. Sie können dann im Prozess noch beständig verbessert werden.

Weitere Infos: https://s3lf.org/ https://soziokratiezentrum.de/

7. Praxis

Zum Themenfeld „Praxis“ gehört die

7.1. Gestaltung der Geldflüsse und Arbeitsorganisation.

Sollen alle gleich viel Kapital einbringen? Gleich hohe Miete zahlen? Oder werden solidarische Ausgleichssystem entwickelt? Wieviel ehrenamtliche Arbeit wird von jedem erwartet? (Womit) will die Gemeinschaft ihr Geld verdienen? Oder ist Geld-Verdienen Privatsache und es geht nur darum, wie die Mieten finanziert werden? Die Grundideen gehören zu der Intention des Projektes, jetzt müssen sie im Aspekt „Praxis“ mit Leben gefüllt und umgesetzt werden.

Das Spektrum bei Gemeinschaftsprojekten ist da weit gestreckt: Von den links-politischen Kommunen mit gemeinsamer Vermögens- und Einkommensökonomie und gemeinsamer Küche bis zu Projekten, in denen jede Familie Eigentümer ihres Häuschens oder aber Mieter von Anderen sind, und in denen es keine gemeinsame Mahlzeiten gibt oder sie über 10 Euro pro Person kosten ist das Spektrum aufgespannt. Bei den meisten Projekten gibt es einzelne Ebenen, in denen es eine gemeinsame Ökonomie gibt (etwa gemeinsamer Grundbesitz) und andere, wo eine private Ökonomie bleibt.

Auch die oben genannten Fragen sollten in der Gründungsphase von der Kerngruppe geklärt werden. In dieser Phase der Bildung einer gemeinschaftlichen Kultur zum Umgang mit Kapital, Arbeit und Einkommen, ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen für die emotionalen und persönlichen Aspekte, die an diesen Themen hängen. Welche Glaubenssätze zum Thema gibt es? Was bringen die Menschen aus ihren Herkunftsfamilien, aus ihren bisherigen Erfahrungen mit? Hier bewegen wir uns im Schnittfeld zwischen den Themenfeldern „Praxis“ und „Gemeinschaft“ und um zu guten Lösungen in der Ökonomie-Organisation auf der Projektebene zu kommen, ist es oft hilfreich, die eigenen Hintergründe zu reflektieren und sich darüber auszutauschen.

Die Eckpfeiler der ökonomischen Struktur eines Projektes sollten in einer frühen Phase festgelegt werden. Eine weit verbreiteteFehlannahme ist es, davon auszugehen, dass sich mehr gemeinsame Ökonomie entwickeln wird, je länger man zusammenwohnt. Das funktioniert so gut wie nie. Besser ist es, am Anfang festzulegen, welche Bereiche gemeinsam sein sollen, und dies sehr klar zu kommunizieren, so dass nur Menschen zum Projekt stoßen, die sich dies ebenfalls vorstellen können. Es ist in der Anfangsphase leichter möglich, mit einem größeren Anteil an gemeinsamer Ökonomie als Experiment zu starten, und dann nach einer bestimmten Zeit auszuwerten, ob es gut lief und bei Bedarf anzupassen, als wenn sich die ökonomischen Gewohnheiten erstmal eingefahren haben – dann ist es schwierig, mit einer Gruppe, die deutlich über ein Paar hinausgeht, noch zu einer gemeinsamen Ökonomie zu kommen.

7.2. Wie kann man an Geld von Unterstützern, an Fördermittel und ähnliches kommen?

Auch diese Fragen gehören zum Themenfeld Praxis.

Projekte, die „einfach nur“ gemeinsam Wohnen wollen, können Ausschau halten nach Förderkrediten für generationsübergreifendes Wohnen, barrierefreien Ausbau, energiesparendes Bauen, und ähnliches. Die meisten derartigen Fördermittel werden länderspezifisch vergeben, ein Suchen auf der Website des Bundeslandes ist daher angeraten. Für Förderkredite für ökologisches Bauen ist die KfW der Ansprechpartner, die meisten Architekten sind damit vertraut.

Es gibt für Themen wie Barrierefreiheit und Begegnung der Generationen evtl. Förderungen des Kuratoriums Deutsche Altenhilfe, der Aktion Mensch, von Lotto-Toto oder anderen Förderorganisationen.

Gerade in Zeiten niedriger Zinsen bei Banken und Instabilität des Geldsystems gibt es immer mehr Menschen, die ihr Geld in sinnvollen Projekten anlegen wollen. Daher ist die Finanzierung durch Direktkredite von Unterstützern immer auch ein möglicher Finanzierungsbaustein. Dies gilt umso mehr, wenn die Gruppe über das gemeinsame Wohnen hinaus einen starken Anspruch hat, in die Welt zu wirken, und die Menschen mit ihrer Investition nicht einfach nur das Wohnen von anderen Menschen, sondern ein Projekt, das Signalwirkung hat, unterstützen.

Projekte, die Kapital von Unterstützenden einwerben, sollten sich unbedingt vorher über Prospektpflicht und Unerlaubtes Bankgeschäft informieren – die Bundesaufsicht für Finanzdienstleistungen (BaFin) hat sich da viele Fallen einfallen lassen, wie arglose Fundraiser von Projekten sich strafbar machen, indem sie Unterstützer werben oder Direktkredite annehmen. Lediglich das Werben von investierenden Mitgliedern für Genossenschaften ist rechtlich völlig unbedenklich. Dies ist schon ein starkes Argument für die Genossenschaft als Rechtsform, denn sie hat ein interessantes Finanzierungsinstrument in ihre Rechtsform eingebaut.

Eine Erläuterung der mit Direktkrediten verbundenen Schwierigkeiten würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Für Genossenschaften ist der Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften eine gute Beratungsorganisation auch für diese Frage. Für Genossenschaften und für gemeinnützige Organisationen gibt es Ausnahmen aus dem Kleinanlegerschutzgesetz – alle anderen Rechtsformen sind sehr limitiert worden in der Arbeit mit Privatkrediten.

7.3. Realisierung

Sind nun Vision, Gruppen-Struktur, Kommunikationskultur, Rechtsform und erste Finanzierungsideen geklärt, beginnt die Phase der Realisierung. Jetzt kann begonnen werden, das Projekt in die Welt zu bringen. Dies kann auch schon als ein Stückchen „Ernte“ der Vorbereitungsschritte gesehen werden. Hier sehen wir, wie die Aspekte oft holografisch ineinander greifen.

Jetzt folgen die Schritte der Suche nach dem richtigen Ort, der Vergrößerung der Gruppe bis zur gewünschten Anzahl, der genauen Finanzierung, etc. Wenn Grundstücke oder Immobilien erworben werden, begegnen sich die Intention und die Realität. Oft kommt es hier nochmal zu Trennungen, dass doch nicht alle Gruppenmitglieder mitgehen können. Dieser Schritt sollte nicht leichtfertig geschehen, aber doch ist es vollkommen normal, dass sich am konkreten Standort die Gruppe nochmal verändert: Alte Mitstreiter gehen und neue kommen hinzu. Bei aller Bedeutung von der Betonung von Gemeinschaft und solidarischem Miteinander: Es ist besser, ein Projekt an einem Ort zu realisieren, der nicht für alle passt, als ein Projekt gar nicht zu realisieren, weil nie der Ort gefunden wird, der für alle passt.

Die konkreten Realisierungsschritte sollten in meinen Augen idealerweise erst gegangen werden, wenn die Grundlage an Klärung der Ausrichtung, der Strukturen und einer Gemeinschaftskultur gelegt sind. Diese Grundlagen in einer kleinen Gruppe festzulegen, und dann die Gruppe zu öffnen, ist in meiner Erfahrung der erfolgversprechendste Weg zu einer erfolgreichen Realisierung des Projektes.


8. Ernte

Ernte: Bewusst die Früchte einbringen.

8.1. Wertschätzung

In der Regel bringen alle oder der Großteil der Gruppenmitglieder in dieser Zeit ihre Arbeit ehrenamtlich in dieses Projekt. Ein Kernthema bei ehrenamtlichen Gruppen ist es häufig, dass sich über diejenigen beklagt wird, die wenig tun, und dass diejenigen, die sich stark engagieren, es vermissen, dass dieses Engagement von den Anderen gesehen und gewürdigt wird. Daher ist der Aufbau einer Kultur, in der die Beiträge der Anderen wertgeschätzt werden – und nicht als Selbstverständlichkeit hingenommen werden – ganz wesentlich. Lieber einmal mehr als einmal weniger würdigen, was die Anderen getan haben. Ein wichtiger Weg dazu ist das Feiern – nicht nur große Veranstaltungen, sondern die Kultur, kleine Zwischenerfolge zu feiern, anzustoßen auf einen guten Zeitungsartikel, eine akquirierte Spende oder Fördermittel, den ersten Jahresabschluss, … das gibt Gelegenheit, denjenigen, die diese Arbeit tun, die eigene Wertschätzung zu zeigen.

In der bewussten Arbeit an der Gruppenkultur können z.B. „Dankesrunden“ auch zum Beginn von Arbeitstreffen, oder Wertschätzungsübungen an gemeinsamen Intensivtagen ganz wesentlich zum Aufbau einer Kultur der Wertschätzung beitragen.

8.2. Reflektion / Feedback

Zur „Ernte“ gehört auch die Reflektion des Ablaufs der Teilprojekte. Ob nun Erfolg oder Misserfolg: Ein Innehalten und Auswerten nach jeder Etappe sollte immer dazugehören. Nur so können wir die Abläufe verbessern und die Strukturen und Intention anpassen.

Gute Entscheidungsstrukturen wie die Soziokratie bauen in Beschlüsse gleich Feedbackschleifen ein, dass nach einer Weile kontrolliert wird, ob und wie die Ziele des Beschlusses erreicht wurden, und die vorsehen, dass die Beschlüsse an die Erfahrungen angepasst werden. Bewusster Einbau von Evaluation und Feedbackschlaufen in Arbeitsabläufe und Beschlüsse, und die Flexibilität, sich schnell anzupassen, wenn die Erfahrung zeigt, dass der eingeschlagene Weg nicht zum Erfolg führt, sind wichtige Punkte, auf die uns der Bereich „Ernte“ aufmerksam machen soll.

8.3. Netzwerken / Kooperation mit Behörden / Aspekt „Welt“

Für alle Projekte ist die Frage der Verbindung mit dem „Außen“, mit der Gesellschaft, ganz essentiell. Projekte haben es deutlich leichter, wenn die Verbindung mit der umgebenden Gesellschaft konstruktiv ist. Wenn das Projekt einem Ziel dient, das auch ein echter Bedarf in der Gesellschaft, in der Region ist, wenn schon im Laufe der Vorbereitungsphase konstruktive Kontakte zu Entscheidungsträgern aufgenommen wurden, dann ist es i.d.R. deutlich einfacher, das Projekt tatsächlich zu realisieren. Netzwerke können in vielen Fragen hilfreich sein – ob zum Austausch über Probleme, die Auftauchen, zur gegenseitigen Unterstützung, dazu, einen Fuß in eine Tür zu bekommen, in die man sonst nicht reinkommt … kurz gesagt: Projekte brauchen Netzwerke!

Um unsere Projekte umzusetzen, brauchen wir oft Zustimmungen von Behörden für ungewöhnliche Lösungen. Dafür man oft gut beraten, wenn es uns gelingt, die entsprechenden Behörden als Partner zu gewinnen – und nicht als Gegner zu sehen. Wenn wir die Menschen, die an entscheidenden Stellen sitzen, mit der Frage ansprechen, ob sie uns unterstützen können, unsere Vision umzusetzen, und sie mit ihrer Kompetenz mit ins Boot nehmen können, dann haben wir diese Klippe schon fast umschifft.

8.4. Persönliches Lernen und Feiern

Neben dem Lernen auf der „Projektebene“, in dem es um das Anpassen von Strukturen und Beschlüssen und Arbeitsabläufen geht, gehört auch das ganz persönliche Lernen und das Genießen des Erreichten zum Aspekt der Ernte.

Zwischenerfolge brauchen Würdigung. Feiern, Momente des Innehaltens und Würdigens, dass wieder ein Schritt geschafft wurde sind wichtig. Oft reicht ein Anstoßen auf den erfolgreichen Schritt oder ein Applaus im richtigen Moment. Aber auch große Feste, an denen würdigend auf den Weg, der hinter der Gruppe liegt, geschaut wird, gehören dazu.

Neben dem Feiern ist auch das „Innehalten“ ein wesentlicher Punkt des Aspektes „Ernte“. Nicht nur in Aktivismus verfallen, sondern immer wieder innehalten und sich Zeit nehmen, auf den Prozess zurückzublicken, der hinter uns liegt, die Früchte des Getanen zu genießen und zu reflektieren, wie es gelaufen ist, was die Einzelnen daraus lernen können, sind wichtige Schritte, um ein Projekt wirklich langfristig zu realisieren, und um nicht an der Arbeit auszubrennen, sondern sie als persönliche Bereicherung und Erfahrung betrachten zu können.

Hier kommen wir auch wieder auf das Zentrum des Kreises zurück: Von der Projektebene (Sachliche Auswertung eines konkreten Ablaufs) auf die Gemeinschaftsebene (Wie lief die Zusammenarbeit, das Miteinander?) auf die ganz individuelle Ebene (Was habe ich persönlich daran lernen können?).

Zusammenfassung

Gemeinschaftliche Projekte aufbauen ist ein Prozess, der immer wieder Aufmerksamkeit alle sieben „Kompass-Aspekte“ braucht. Man kann den Kompass als Leitfaden zur Projektgründung heranziehen, und entlang der vier Aspekte „Intention“, „Struktur“, „Praxis“, „Ernte“ einen Fahrplan zur Projektgründung erstellen – wobei man in jeder Phase die drei Handlungsebenen „Individuum“, „Gemeinschaft“ und „Welt“ im Blick behalten sollte.

Der Artikel führt durch die wesentlichen Schritte des Aufbaus eines Gemeinschaftsprojektes – im Bewusstsein, dass viele Schritte auch parallel stattfinden, dass ein lebendiger Prozess nie einem starren Schema folgt und es viele Wege gibt, die nach Rom führen können. Der Gemeinschaftskompass kann in diesem lebendigen Prozess jedoch Orientierungshilfe bieten, wie es die Aufgabe eines Kompasses ist.

Lust auf mehr Information über den Gemeinschaftskompass?

Inzwischen gibt es zwei Bücher zum Gemeinschaftskompass.

Das Buch “Der Gemeinschaftskompass – eine Orientierungshilfe für kollektives Leben und Arbeiten” ist 2021 erschienen und eine ausführliche Einführung in das Modell, mit vielen Beispielen und Vertiefungen für Lebensgemeinschaften und Wohnprojekte.

Das Buch “Gemeinsam die Welt verändern – aber wie?” verbindet eine kürzere Einführung in den Gemeinschaftskompass mit ausführlichen methodischen Überlegungen und Methoden. In diesem Buch kommen die Beispiele aus einer Vielzahl von unterschiedlichen “Wandel-Initiativen”, die einen konstruktiven Beitrag für eine zukunftsfähige Gesellschaft leisten wollen.

Beide sind erhältlich über den www.eurotopiaversand.de

1Da der Begriff „Ernte“ als einziger sich nicht unmittelbar erschließt, hier eine kurze Einführung: Unter „Ernte“ verstehen wir den Aspekte wie Auswerten, Feedback, Reflektion der Strategien, Wertschätzung, Feiern.

2Wenn Paare dabei sind, sollten es mindestens 4 Personen sein – die Kombination von einem Paar und einer Einzelperson hat sich oft als konfliktbeladen erwiesen.