Das Power-Paradox

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In den Kreisen, in denen ich mich bewege, gibt es häufig eine große Skepsis gegenüber dem Thema „Macht“. Macht wird als böse angesehen, mit Machtmissbrauch gleichgesetzt.

Die Skepsis gegenüber „Macht“ hat gute Gründe. Viel zu häufig wurde erlebt, wie Menschen, die mit guten Idealen starteten und als Advokaten einer neuen, partizipativeren Kultur losgingen, auf dem Weg zur Macht ihre Ideale verloren und immer despotischer wurden.

Ein Beispiel dafür ist Daniel Ortega. Er wurde in den 80er Jahren in der deutschen Linken gefeiert als Befreier Nicaraguas mit vielen guten, reformerischen Ideen – an der Macht entwickelte er sich zum Diktator. Wie kommt es, dass manche Menschen in Machtpositionen ihre schlechtesten Seiten herauskehren? Und: (Wie?) Können wir das verhindern?

Wissenschaftliche Forschung zu den Auswirkungen von Machtpositionen

Ein Wissenschaftler, der sich wie kaum ein anderer mit der Frage beschäftigt hat, wie Macht entsteht und wie sie Menschen verändert, ist Dacher Keltner. Der Sozialpsychologe ist Professor für Psychologie an der University of Berkeley, Californa. Darüber hinaus leitet er das von ihm gegründete Greater Good Science Institute. Die Frage, was wir zum „Greater Good“, dem Allgemeinwohl beitragen können, beschäftigt seine gesamte Forschungsarbeit.

Keltner formuliert in „The Power Paradox“ 20 Prinzipien zum Thema Macht, von denen ich hier jetzt jene zitieren möchte, die das „Paradox“ verdeutlichen.


Das von ihm so genannte Power Paradox besteht darin, dass dieselben Fähigkeiten, die dazu führen, dass Menschen von Anderen mit Macht ausgestattet werden, (Prinzipien 4 – 12) mit zunehmender Macht häufig verloren gehen (Prinzipien 13 – 16). Dies ist ein von vielen Expert:innen bestätigtes Phänomen, das tragisch, aber nicht unausweichlich ist.

Für einen konstruktiven Umgang mit dem Thema „Macht“ ist wichtig, dieses Phänomen zu kennen und zu verstehen. Keltners Studien zeigen, dass Menschen, die in seinen Experimenten zufälligerweise eine Machtposition zugewiesen bekamen oder sich durch den Versuchsaufbau in ein eher mächtiges Selbstbild begeben haben, häufiger unangenehme Verhaltensweisen an den Tag legen.

Wer nimmt den letzten Keks?

Am Bekanntesten ist wohl Keltners Versuch: „Who takes the last cookie?“ Versuchspersonen wurden in Dreiergruppen eingeteilt, und eine zufällig ausgewählte Person dieser Dreiergruppe wurde zum „Supervisor“ ernannt, und die anderen beiden als Teilnehmende. Die Gruppen bekamen eine Aufgabe, die nichts mit der eigentlichen Fragestellung zu tun hatte.

Die so zufällig auf „mächtig“ oder „weniger mächtig“ definierten Menschen wurden dann beobachtet. Die Gruppe bekam einen Teller mit fünf Keksen hingestellt, und es wurde beobachtet, wer sich einen zweiten Keks nahm. Und die Person, die die mächtige Rolle zugeteilt bekommen hatte, nahm sich nahezu doppelt so häufig einen zweiten Keks wie die anderen aus der Gruppe.

Das Ergebnis war aber nicht nur in dieser Hinsicht beeindruckend. Die „Mächtigen“ nahmen sich nicht nur häufiger einen zweiten Keks, sie kauten häufiger mit offenem Mund und hinterließen mehr Krümel. Kleine Verhaltensunterschiede, die aber deutlich sichtbar waren und streng methodisch kontrolliert erfasst werden. Die Erklärung: Wenn wir uns mächtiger fühlen, scheren wir uns weniger um soziale Konventionen, sind enthemmter und haben den unbewussten Eindruck, uns steht mehr zu.

Macht scheint automatisch zu enthemmen und dazu beizutragen, dass Andere weniger mitbedacht werden. Und damit verlieren Mächtige häufig die Basis, die für den konstruktiven Einsatz von Macht notwendig ist.

Wie kommt das?

Julie Diamond (Power – A user’s Guide) stellt die These auf, dass es weder alleine an der Psyche der Person noch an der Situation liegt, sondern dass die mächtige Rolle selber einen Einfluss auf die Menschen hat. „Rollen sind größer als Menschen. Menschen sind größer als Rollen.“ ist eins der Credos der Prozessorientierten Psychologie. Die Rolle des „Mächtigen“ lädt dazu ein, anders zu denken und zu handeln.

Macht verändert die Wahrnehmung

Macht lenkt den Blick weg vom Einzelnen auf abstrakte, größere Zusammenhänge. Das ist in Positionen, in denen mehr Überblick erforderlich ist, auch sinnvoll und notwendig.

Ein interessantes Phänomen ist, dass Menschen, die sich mächtig fühlen, nicht nur enthemmter nach Kensen greifen, sondern auch weniger auf Details als viel mehr auf den Überblick und Zusammenhänge schauen. Man könnte meinen, dass der „Überblick“ etwas ist, das zu mehr Macht führt – und das ist sicher auch der Fall – aber durch Studien, in denen wiederum ein Machtgefühl künstlich erzeugt wurde, wurde aufgezeigt, dass bereits die Frage, ob sich jemand „mächtig“ oder „wenig mächtig“ fühlt, nicht nur die Frage, wer den letzten Keks nimmt, sondern auch die Wahrnehmungsfähigkeit verändert.

Die Fähigkeit, abstrakt zu denken und eher auf Überblick und Zusammenhang zu achten als auf Details ist in „mächtigen“ Situationen, in denen weitreichende Themen zu entscheiden sind, häufig sinnvoll, aber hat auch die Konsequenz, dass Empathiefähigkeit dabei verlorengeht.

Die Rolle scheint hier wahrhaftig einen ganz eigenen Einfluss auf die Menschen zu haben. So sagt die Prozessarbeit: „Die Rolle ist größer als der Mensch!“

Macht verführt zu Selbstüberschätzung

Ein bekanntes psychologisches Phänomen – für alle Menschen – ist der sogenannte „Self-Serving-Bias“. Menschen tendieren meist dazu, ihre eigenen Erfolge ihren persönlichen Fähigkeiten und Anstrengungen zuzuschreiben und Misserfolge eher Anderen und der Situation.

Dieses Phänomen ist bei Menschen in Machtpositionen noch stärker ausgeprägt als beim Durchschnittsmenschen – vollkommen unabhängig davon, wieviel Kontrolle und Einfluss sie wirklich auf eine Situation haben.

Sicher gibt es auch den umgekehrten Wirkmechanismus: Menschen, die sich selber Erfolge zuschreiben, sind selbstbewusster und gelangen so leichter in Machtpositionen. Aber die sozialpsychologische Forschung zeigt hier wieder, dass dieser Effekt auch für die Experimentalgruppe gilt, die zufällig zusammengestellt worden und nur durch die Versuchsanordnung „mächtig gemacht“ wurden.

Das weist darauf hin, dass auch einfach das Gefühl, mächtig zu sein, diese Tendenz der Selbstüberschätzung stärkt. Und wenn man davon überzeugt ist, dass die Erfolge vor allem auf das eigene Engagement zurückzuführen sind, dann erlaubt man sich natürlich auch leichter „Belohnungen“ oder Standards, die für andere gelten, nicht so wichtig zu nehmen.

Rangbewusstsein ist entscheidend!

Hier könnten sich diejenigen bestätigt fühlen, die sagen: „Macht sollte ganz abgeschafft werden, denn wir sehen ja, es bringt das Böse in uns zum Vorschein!“ Aber wir können es nicht abschaffen, dass Menschen unterschiedlich sind und daher auch unterschiedlich viel Gestaltungskraft haben. Und: zum Glück ist es nicht so, dass Macht immer das Böse in uns auslöst, wir brauchen für den gesellschaftlichen Wandel unsere konstruktiv genutzte Macht. Wir brauchen es, dass Menschen ihre Kompetenzen und ihre Privilegien für den Wandel einsetzen. Wie kann das Gelingen ohne in die Fallen zu tappen, die Macht mit sich bringt??

Hier kommt der zweite Teil des wichtigen Grundsatzes der Rollentheorie in der Prozessarbeit zum Tragen: „Die Rolle ist größer als der Mensch. Der Mensch ist größer als die Rolle.“ Es ist wichtig, zu wissen: Machtvolle Rollen fördern die Tendenz, in die Falle der Selbstüberschätzung und der mangelnden Empathie zu treten. Aber: Der Mensch ist auch größer als die Rolle. Macht muss nicht korrumpieren, obwohl die Gefahr, dass sie korrumpiert, groß ist. Abraham Lincoln, einer der mächtigsten Menschen seiner Zeit, prägte den Satz: „Wenn du den wahren Charakter eines Menschen kennenlernen willst, gib ihm Macht!“

Das Bewusstsein über die Fallstricke, die mit mächtigen Rollen verbunden sind, kann uns helfen, genau diese Fallen zu vermeiden und unsere Kraft für eine bessere Welt einzusetzen, in der alle Menschen in ihre Kraft kommen können. Daher ist es „Rangbewusstsein“ so wichtig.

Mit Rangbewusstsein meine ich eine bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien, mit den Möglichkeiten, die ich bekommen habe, um an der einen oder anderen Stelle mehr bewegen zu können als andere. Diese Privilegien sind ein Geschenk. In manchen linken Kreisen, in denen Macht verpönt ist, werden diese Privilegien gleich mit dem Bade ausgeschüttet, und abgelehnt. Dabei können sie sinnvoll wirken – und darum geht es. Aber wir müssen uns sehr bewusst sein, wie diese Privilegien uns und auf menschliche Interaktionen beeinflussen.

Es ist gerade für Menschen, die leicht in Führungsrollen gehen, ungeheuer wichtig, sich mit ihren Privilegien auseinander zu setzen und die Gefahren, die sich daraus ergeben, zu kennen. Denn die Forschungen zum Power Paradox zeigen zwar auf, dass eine Gefahr zu Selbstüberschätzung und unsozialem Verhalten in mächtigen Rollen liegt, aber sie zeigen nicht, dass dies unausweichlich ist. Sie weisen lediglich darauf hin, dass es eine Tendenz dazu gibt. Es ist immer noch eine Frage des eigenen Bewusstseins, ob wir in diese Fallen hineintappen, oder ob wir bewusst unsere Empathiefähigkeit schulen und aufmerksam beobachten, ob wir zur Selbstüberschätzung verleitet werden. Die Person ist größer als die Rolle! Es liegt in unserer Hand, Macht konstruktiv zum Wohle aller einzusetzen, ohne in die Falle des Power Paradox zu treten.

Eva Stützel, März 2024

Interesse, tiefer in das Thema einzutauchen? Ich gebe in 2024 zwei Seminare dazu:

24.-27.5. Wir sind doch alle gleich!? Im Ökodorf Sieben Linden

7.10.11. Macht, Rang und Privilegien – Zündstoffe für hierarchiefreie Projekte. Im ZEGG, Bad Belzig

Quellen:

Diamond, Julie, 2016: Power – A user’s Guide. Belly Song Press.

Schaarschmidt, Thomas, 2016: Was macht mit uns macht. In Spektrum der Wissenschaft, https://www.spektrum.de/news/was-macht-mit-uns-macht/1416651

Keltner, Dacher, 2016: The Power Paradox. How we gain and lose influence. Penguin Books.

Keltner, Dacher, 2016: The Power Paradox. How we gain and lose influence. Penguin Books.

Mindell, Arnold, 2014: The Leader as a Martial Artist. Deep Democracy Exchange.

Smith, P. & Trope, Y., 2006: You Focus on the Forest When you Are in Charge of the Trees. Power Priming and Abstract Information Processing. veröffentlicht in: Journal of Personality and Social Psychologie, 2006, Vol. 90 Nr. 4, 578-596.