in egalitären Gemeinschaftsprojekten
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Zu meinen Grundwerten und denen vieler Projekte, die ich begleite, gehört ein achtsamer Umgang mit sich selbst, anderen Menschen und der Mitwelt. Für viele von uns sind die Wörter „Macht“, „Hierarchien“ und „Privilegien“ Reizwörter, die Phänomene ansprechen, die unseren Werten entgegenwirken.
Wir streben eine Gleichberechtigung aller Menschen an. Gleich-Wertigkeit, Gleich-Würdigkeit aller Menschen, in meinen Augen sogar aller Wesen, ist ein hoher Wert. Das führt leicht zu dem Schnellschluss, das es keine Hierarchien geben darf, und dass Macht und Privilegien etwas schlechtes sind, das ausgemerzt werden muss.
Auf der anderen Seite streben wir an, dass alle Mitglieder unserer Projekte Einfluss haben auf das, was im Projekt geschieht. Genau das ist aber die Definition von Macht. Macht bedeutet, Einfluss auf Situationen und Menschen nehmen zu können.
Und es gibt ein menschliches Grundbedürfnis nach „Selbstwirksamkeit“. Dies ist im Grunde auch nichts anderes als ein Bedürfnis danach, die eigene „Macht“ zu spüren, zu spüren, wie ich mit dem, was ich tue, die Welt beeinflussen kann.
Wie können wir in diesem Spannungsfeld zu einem konstruktiven Umgang mit dem Thema kommen?
Fakt ist, dass Individuen unterschiedlich sind. Und aus Unterschiedlichkeiten ergeben sich unterschiedliche Kompetenzen, und damit – überall in der Natur – auch unterschiedliche Ränge. Jede Tiergruppe hat eine gewisse Struktur – das ist in menschlichen Zusammenhängen nicht anders. Es hilft nichts, wenn man diese Tatsache ignoriert oder bekämpft, weil sie nicht sein soll.
Die Prozessarbeit nach Arnold Mindell hat mir eine neue Sichtweise auf Rang und Macht eröffnet, indem sie dieses Konzept sehr stark in ihre Arbeit integriert, und betont, wie wichtig ein Bewusstsein für diese Dynamiken ist, um sie konstruktiv zu nutzen.
Wirken werden diese Dynamiken auf jeden Fall, das Phänomen „Rang und Macht“ lässt sich durch Ignorieren oder Bekämpfen nicht aus der Welt schaffen. Also braucht es einen bewussten Umgang damit. Dazu gehört zunächst das Schaffen von Bewusstheit für unsere „Ränge“.
Was bedeutet „Rang“?
Mit Rang bezeichnet Arnold Mindell (1995, 1997) die „Summe aller Privilegien“, die jemand hat. Privilegien sind Wahlmöglichkeiten, die die Person, die sie hat, meist für selbstverständlich nimmt, die aber nicht alle Personen haben. Sie sind meist unbewusst, bewusst wird einem erst das Fehlen des Privilegs. Das führt in der Regel dazu, dass Menschen sich oft nicht bewusst sind, wenn sie in hohen Rangpositionen sind, aber die Situationen, in denen sie in niedrigen Rangpositionen sind, den meisten Menschen sehr bewusst werden. Ein europäischer Pass ist ein derartiges Privileg – wir können damit fast überall hin reisen. Das wird häufig erst im Kontakt mit Menschen mit z.B. einem afrikanischen Pass bewusst – für sie ist derartiges Reisen wesentlich schwieriger. Ein viel zitiertes historisches (wenn auch vermutlich erfundenes) Beispiel für diese Unbewusstheit ist das Zitat, das der französischen Königin Marie-Antoinette zugeschrieben wird: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!“, als sie erfuhr, dass die Bauern revoltierten, weil es kein Brot gab.
Rang hat verschiedene Wurzeln und ist sehr situativ, er kann sich je nach Situation sehr stark unterscheiden. Ich unterscheide zwischen „sozialem Rang“, der aus dem sozio-ökonomischen Hintergrund einer Person kommt, „persönlichem Rang“, der sich aus den Kompetenzen, der psychischen Stabilität und Erfahrungen und der persönlichen Energie zusammensetzt, und dem“strukturellen Rang“, der aus der Position in der Struktur der Organisation / Gruppe, in der die Person sich befindet, resultiert. (Mindell und seine Schüler:innen haben unterschiedliche Unterscheidungen entwickelt, mir scheint diese Dreiteilung die logischste.)
Diese Tabelle nutze ich gerne in der Arbeit mit Gruppen, um den eigenen Rang zu reflektieren. Manche Rangaspekte sind Kontextabhängig. Gibt es Kontexte, in denen Du die gleichen Eigenschaften unterschiedlich „hoch“ einordnest?
Bewusster Umgang mit dem Thema Rang, Macht und Privilegien
90% aller Konflikte sind Rangkonflikte
Sehr viele Konflikte um Sachthemen eskalieren, weil es hintergründige Rangkonflikte gibt. Rangthemen ohne Vorwurf ansprechen zu können, eröffnet völlig neue Wege der Konfliktlösung.
In einem „Rangkonflikt“ ist es meist so, dass sich beide Seiten eines Konflikts gefühlt in einem niedrigen Rang sehen. Wenn wir aus einer niedrigen Rangposition reagieren, schaltet die Psyche auf „Gefahr!“ und wir nutzen meist eine der drei archetypischen Reaktionen auf Bedrohung: Kampf, Flucht oder Totstellen. Das sind ebenfalls drei typische Reaktionen auf Meinungsverschiedenheiten mit jemand, der gefühlt eine höhere Rangposition vertritt als ich: Aggressiv argumentieren, ins Schweigen verfallen, oder aus der Situation / Gruppe gehen. Alle drei Reaktionen führen selten zur Verständigung und konstruktiven Konfliktlösung.
Daher ist einwichtiger Hinweis aus der Prozessarbeit zum Umgang mit Rangkonflikten: „Sei Dir Deines Ranges sehr bewusst“ (Diamond 2017) Sich die Frage zu stellen, ob ein Konflikt, in dem man steckt, vielleicht dadurch verschärft wird, dass sich das Gegenüber mir gegenüber in einer niedrigeren Rangposition fühlt, und daher aus meiner Sicht „unangemessen“ reagiert, kann viele Konflikte entschärfen und Möglichkeiten zur Verständigung aufzeigen. Denn wenn mir meine hohe Rangposition bewusst wird, kann ich leichter deeskalierend wirken. Dazu gehört aber auch ein sehr achtsamer Umgang mit dem Thema.
Je konflikthafter die Situation, je bedeutsamer ist es, dass man sich seines Ranges in allen Dimensionen bewusst wird, und sehr bewusst entscheidet, ob und wie man ihn einsetzt:
Den eigenen strukturellen Rang sollte man nur dann einsetzen, wenn es unbedingt not-wendig ist und die eigenen Kompetenzen und Erfahrungsstand signalisieren, dass hier „Gefahr im Verzug“ ist.
Wenn aufgrund der eigenen Kompetenzen und Erfahrungen ein bestimmte Herangehensweise für vorteilhaft gehalten wird, sollte trotzdem gleichzeitig der hohe persönliche Rang auch zur Reflektion führen – ist das so wichtig, dass es angeraten ist, dafür andere zu bremsen? Wie kann ich meine Kompetenzen und Erfahrungen auf eine Art einbringen, die andere stärken? Wie kann ich Brücken bauen zu den Menschen, die etwas anderes wollen? Wo kann ich von meinen Lieblingsideen zurücktreten, um Anderen Entfaltung zu ermöglichen?
Manchmal ist es wichtig, dass jemand den eigenen hohen Rang einsetzt, um die eigene Lösung einzubringen, und manchmal bedeutet der bewusste Einsatz des hohen Rangs, sich zurückzunehmen. Es gibt dafür kein fertiges Rezept, und in den seltensten Fällen werden alle Beteiligten übereinstimmen, was die achtsamste und bewussteste Lösung in diesem Falle wäre. Dennoch ist es hilfreich, sie bewusst zu suchen – und dafür später auch Feedback einzuladen.
Individuelle Ebene
Bewusster Umgang In Situationen mit eigenem „hohem Rang“
Es braucht von Menschen, die in einer bestimmten Situation einen hohem Rang haben, ein starkes Bewusstsein für die Privilegien, die ihr hoher Rang mit sich bringt, und einen achtsamer Umgang mit ihrer Rangposition. Die eigenen Privilegien, der eigene hohe Rang sind meist unbewusst und werden nicht wahrgenommen und heruntergespielt. In Gemeinschaften, in denen „Rang“ ein Tabu ist, kommt zu der immer vorhandenen psychologischen Tendenz, Rang nicht wahrzunehmen, noch dazu, dass ein hoher Rang nicht den Gruppenwerten entspricht, und daher erst recht ausgeblendet wird.
Trotzdem wirkt er. Daher ist innere Arbeit, mit der wir uns bewusst machen, an welchen Punkten wir gegenüber anderen Privilegien haben, so wichtig.
So sagt es sich leicht von Menschen, die keine Probleme haben, vor Gruppen zu sprechen: „XY hätte doch im Plenum was sagen können!“, wenn jemand nicht bewusst, dass es XY viel schwerer fällt als ihnen, im Plenum etwas zu sagen. Aber genau in derartigen Situationen braucht es ein Bewusstsein unserer Privilegien.
Wenn wir uns bewusst machen, dass auch unsere hart erarbeiteten Positionen und Kompetenzen, die wir haben, Privilegien sind, die wir nicht bei Anderen voraussetzen können, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Es braucht für viele eine Bewusstseinsveränderung, zu sich selber entspannt sagen zu können: „Hier habe ich einen hohen Rang!“ – dies trauen sich die wenigsten, da es gerade in Gemeinschaften solch ein Tabu ist. Aber das ist der erste, wichtige Schritt. Der nächste Schritt, ist damit bewusst umzugehen, und auch darüber zu sprechen, wie ich diesen Rang sinnvoll zum Wohle der Gruppe einsetzen kann, und wo ich sehr aufmerksam sein muss, um nicht andere damit zu überfahren.
Da diese Art der Kommunikation für viele Gruppen vollkommenes Neuland ist, ist es empfehlenswert, die ersten Schritte dazu entweder im sehr vertrauten Kreis, in dem es keine ernsthaften Konflikte gibt, zu tun, oder mit einer erfahrenen Supervision. Denn es ist ein sensibles Thema, das auch schnell nach hinten losgehen kann. Wenn die Gruppe gelernt hat, Rang als ein Thema zu sehen, das ohne dass es gleich Kritik beinhaltet, angesprochen werden darf, dann kann dies aber das Gruppenleben sehr erleichtern.
Ein hoher Rang beinhaltet auch eine große Verantwortung: Es ist sehr viel leichter, aus einem hohen Rang heraus Brücken zu bauen als aus einer tiefen Rangposition heraus. Daher ist das „Aufeinander zugehen“ insbesondere eine Aufgabe für Menschen mit einem hohen Rang.
Oft denken gerade Menschen, die einen hohen strukturellen Rang haben,
dass sie ihre Schwächen nicht zeigen dürften, weil sie dadurch ihre Stellung und damit ihren Rang verlieren. Dabei ist es sehr vertrauensbildend, mit den eigenen Schwächen offen umzugehen, und damit das Podest des „Hochrangigen“ zu verlassen.
Hilfreich für Menschen, die in ihrem Kontext eher eine ranghohe Position einnehmen, ist es, sich immer wieder auch ganz bewusst in Rollen zu begeben, in denen ein niedriger Rang eingenommen wird, und den auch ganz bewusst zu erfahren. Als Helfer:in irgendwo mitarbeiten, als Teilnehmer:in in ein Seminar, eine Sportgruppe, einen Chor zu gehen, in dem mich keiner kennt …. und diese Erfahrungen bewusst zu erleben.
Bewusster Umgang In Situationen mit eigenem subjektiv „niedrigem Rang“
Der eigene Rang ist nie objektiv festgelegt, er ist immer auch ein Stückchen eine Frage der Selbstdefinition. Wenn ich mich in einer Beziehung unbewusst als „rangniedriger“ einordne, dann bin ich das in einer Facette der Realität vermutlich auch, aber sicher gibt es auch eine Andere. Wenn ich mir klar mache, was meine Kompetenzen sind, die mir einen hohen Rang zusprechen, dann nehme ich diesen Rang automatisch ein Stückchen an und kann aktiver agieren und diesen Rang auch leben.
Daher ist eine ganz wichtige Wachstumsaufgabe, nicht nur im niedrigen Rang zu verharren, sondern bewusst die eigene Macht zu entfalten, indem ich mir bewusst mache, wo ich einen hohen Rang habe, und den auch einnehme. (Das aber mit Augenmaß und offen für Feedback, s.u.)
Lernen, über Rang zu sprechen
Zu einem bewussten Umgang mit Macht in Gemeinschaftsprojekten gehört eine Kultur, in der das Thema „Rang“ angesprochen werden darf, ohne dass es peinlich oder mit Schuldvorwürfen behaftet ist.
Dazu gehört als erstes eine Bewusstheit über den eigenen persönlichen Rang. Meist hat jeder Mensch in irgendeiner Situation und Dimension einen hohen Rang, und in anderen niedrigen. Es ist besonders wichtig, sich den eigenen hohen Rang bewusst zu machen, und daran anzuknüpfen. Wir sind uns oft eher unserer niedrigen Ränge bewusst, weil es schmerzlich erfahren wird, wenn man Privilegien nicht hat. Der eigene hohe Ränge wird oft als Selbstverständlichkeit genommen und daher nicht wirklich als „hoher Rang“ erkannt.
Aber auch die bewusste Wahrnehmung unseres niedrigen Rangs darf gerne angesprochen werden. Wenn ich mich im subjektiv niedrigeren Rang fühle, und deshalb in einem Konflikt heftig reagiere, noch sagen kann: „Ich fühle mich an dieser Stelle Dir gerade unterlegen!“ dann kann das andere Lösungsmöglichkeiten eröffnen. Je mehr die Gruppe gemeinsam gelernt hat, Rangbewusstsein zu entwickeln und darüber zu sprechen, desto leichter wird es. In einer Gruppe, in der nicht gemeinsam am Thema „Rangbewusstsein“ gearbeitet wurde, kann eine derartige Aussage vielleicht sogar die Konfrontation verschärfen, weil es anmaßend klingt, wenn jemand von seinem eigenen Rang spricht.
Rang ist sehr situativ und manchmal geradezu paradox: Auf eine gewisse Art stelle ich mich, wenn ich anspreche, dass ich mich im niedrigen Rang fühle, sofort auf einen höheren Rang indem ich Rangbewusstsein signalisiere, und der anderen Person damit meist unterstelle, dass sie ohne Bewusstsein für ihren Rang – also gegen unsere Werte – gehandelt hat.
Offenheit für Feedback
Für alle Menschen ist es unterstützend, wenn sie bereit sind, Feedback anzunehmen. Gerade um Rangbewusstsein zu entwickeln, ist es unerlässlich,, Feedback einzuladen: Wo wirke ich dominant und vielleicht einschüchternd, wo ich es gar nicht sein will und auch nicht von mir erwarte? Wo fühle ich mich schwach und wie nehmen mich meine Mitmenschen in dieser Rolle wahr? Wo fällt meinen Vertrauten auf, dass ich Unsicherheit hinter besonders selbstsicherem Auftreten verstecke? Wo würden sich Menschen wünschen, dass ich spreche, obwohl ich es mir gar nicht zutraue?
Die Einladung, über Rangthemen zu sprechen, über die Rangposition, die Menschen in einer bestimmten Position einnehmen, im Sinne eines Forschungsraumes sich auszutauschen, ohne negativ zu urteilen, ist ein wichtiger Schritt für das individuelle und das gemeinschaftliche Wachstum.
Gemeinschaftskultur
Mein Idealbild von Umgang mit Macht und Rang ist eine Kultur, in der angestrebt wird, die Kräfte der ganzen Gruppe zum Besten der Gemeinschaft und aller Individuen einzusetzen.
Das umfasst einen bewussten Umgang mit Rang und Macht – um alle Individuen zu unterstützen, in ihre eigene Kraft zu kommen. Dazu gehört auch, dass die Menschen mit viel Gestaltungskraft die Chance haben, ihre Gestaltungskraft auszuleben, ohne damit andere „unterzubuttern“.
Um dies zu erreichen, brauchen wir
- eine offene Kommunikation über Rangfragen,
- eine sehr hohe Bewusstheit der Menschen, die hohe Ränge einnehmen,
- ein Wertschätzen der Schätze, die für die Gruppe in den hohen Rängen ihrer Mitglieder liegen, und
- eine Struktur und Kultur, die es sich zur Aufgabe macht, möglichst viele Menschen in ihre Kraft zu bringen.
In Gemeinschaften, die nach Hierarchiefreiheit streben, gibt es leider häufig zwei andere – meist aber nicht konstruktive – Arten, mit der Rangthematik umzugehen:
1.) Es darf keine Hierarchie geben, daher wird nicht darüber gesprochen, dass einige Menschen einen höheren Einfluss auf das Gemeinschaftsgeschehen haben als andere. Das macht es aber schwierig, die unterschwelligen Konflikte, die damit verbunden sind, anzuschauen.
2.) Es darf keine Hierarchie geben, deshalb werden Menschen, die eine hohe Gestaltungskraft oder aus anderen Gründen eine hohe Rangposition haben, häufig ausgebremst und / oder kritisiert, weil sie damit zu viel Macht ausüben und Andere unterdrücken würden. Das schwächt die Gruppe, die davon profitieren würde, wenn alle Menschen ihre Gestaltungskraft zum Wohle aller ausleben könnten.
Hohen Rang wertschätzen – und die Verantwortung und Bewusstheit dazu einfordern!
Ein hoher Rang in einem Gemeinschaftsprojekt kommt fast nie nur von einem hohen strukturellen Rang – sondern in der Regel aufgrund von Kompetenzen und Ressourcen, die eine Person aufgrund ihrer Persönlichkeit und ihres sozialen Hintergrunds mitbringt. Dies sind Schätze für das Projekt. Diese Schätze können einer Gruppe nutzen, wenn sie sinnvoll eingesetzt werden.
Gruppen, in denen Menschen mit hohen Gestaltungskompetenzen bewusst oder unbewusst „klein gehalten“ werden, schwächen ihre Kraft unnötig. Es ist gut, anzuerkennen, wo jemand einen hohen Rang hat, und das entsprechend zu würdigen und für die Gruppe zu nutzen.
Und gleichzeitig darf von Menschen mit hohem Rang auch ein Bewusstsein dafür eingefordert werden, was hoher Rang bedeutet an Verpflichtung und Rücksichtnahme gegenüber Menschen, die weniger Privilegien haben. Aber auch das muss mit Bewusstheit und Achtsamkeit geschehen, denn ….
Subjektive Rangpositionen können sich schnell verändern
Ein Weg, extrem schnell eine Veränderung der subjektiven Rangdynamik zu erzeugen, ist es gerade in „hierarchiefreien“ Gruppen, Menschen ihren Rang vorzuwerfen. Ein Vorwurf wie „Du dominierst sowieso immer alles!“ oder „Du als Mann darfst mir als Frau gar nix sagen!“ triggert sofort einen Konflikt, in dem die Person, der ihr hoher Rang vorgeworfen wird, sich sofort subjektiv in einem extrem niedrigen Rang fühlt, weil ihr vorgeworfen wird, mit ihrer Persönlichkeit gegen die Grundwerte der Gruppe zu verstoßen. Aus dieser subjektiv niedrigen Rangposition wird dann entsprechend (mit Kampf, Flucht, Totstellen) wenig konstruktiv reagiert, und der Konflikt verschärft sich.
Ein struktureller Lösungsweg: Soziokratie
Anstatt Gestaltungskraft zu limitieren, ist es hilfreich, Strukturen zu schaffen, in denen möglichst viele Menschen in einem Bereich in einen hohen strukturellen Rang kommen, und auch Entscheidungskompetenzen haben, und sich in anderen Bereichen den Entscheidungen anderer unterordnen. Die Soziokratie (siehe z.B. soziokratiezentrum.de) liefert mit ihrer Organisation in Kreisen mit eigenem Entscheidungsrahmen hierfür ein Organisationsmodell, das dafür sorgt, dass alle Mitglieder einer Organisation in ihrer Domäne Entscheidungsverantwortung haben.
Ein konstruktiver Umgang mit Rangfragen – ein Beitrag von Gemeinschaften zu gesellschaftlichem Wandel?!
Wir kommen aus einer Kultur, in der Rang und Macht historisch mit Machtmissbrauch und „Macht über Andere“ verbunden und negativ besetzt ist.
Daraus entwickelte sich in der Gemeinschaftsszene das Ideal von „hierarchiefreien Gemeinschaften“, in denen es keine Leitungsrollen und keine Menschen geben durfte, die mehr entscheiden dürfen als andere.
Diese Entwicklung führte aber – weil Menschen mit hoher Gestaltungskompetenz dann oft in ihrer Kraft gebremst werden – oft auch zu einer Schwächung dieser Projekte.
Das wiederum gab Vorschub für eine – in meinen Augen skeptisch zu sehende – Gegenbewegung, die die Hierarchie wiederentdeckt, und, ideologisch gestützt von Ken Wilber und Spiral Dynamics, anfangen, Kompetenzhierarchien zu entwickeln. Dies birgt jedoch das Risiko in sich, wieder in alte, autoritäre Machtmuster „über andere“ zu rutschen.
Die Perspektive der Prozessarbeit bietet in meinen Augen einen Ausweg aus diesem Dilemma zwischen dem Weg, die sich durch Ausbremsen der Mächtigeren schwächen oder dem Weg, auf dem wenigen die höchste Kompetenz und damit Entscheidungsfähigkeit zugesprochen wird.
Ich sehe eine große und wichtige gesellschaftliche Aufgabe darin, einen neuen Umgang mit Rang und Macht zu entwickeln. Die Frage, wie wir in unseren Projekten dazu beitragen können, alle Menschen darin zu unterstützen, in ihre Gestaltungskraft zu kommen, und ihren ganz eigenen hohen Rang zum Wohle aller einzusetzen, ist wesentlich für den gesellschaftlichen Wandel.
Literatur:
Buck, John & Villines, Sharon (2. Auflage 2017): We, the People. Consenting to a Deeper Democracy. Washington, DC: Sociocracy.info
Diamond, Julie (2016): Power: A User‘s Guide. Santa Fe: Belly Song Press.
Mindell, Arnold (1995): Sitting in the Fire: Large Group Transformation Using Conflict and Diversity. San Francisco: Deep Democracy Exchange.
Mindell, Arnold (1997): Der Weg durch den Sturm: Weltarbeit im Konfliktfeld der Zeitgeister. Petersberg: Verlag Via Nova.