Ausführliche Einführung in den Gemeinschaftskompass

Der Gemeinschaftskompass

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Zusammenfassung


Der Gemeinschaftskompass bietet eine einfache und leicht handhabbare Antwort auf die Frage: Welche Aspekte sollten gemeinschaftliche Projekte in ihrer Entwicklung beachten? Mit den sieben Aspekten Individuen, Gemeinschaft, Intention, Struktur, Praxis, Ernte und Welt sind alle wesentlichen Felder identifiziert. Bewusst stehen Individuen und Gemeinschaft im Zentrum des Gemeinschaftskompass, sie sind der Schlüssel zur gemeinschaftlichen Projektentwicklung.

Der Gemeinschaftskompass eröffnet mit dieser einfachen Systematisierung eine Vielzahl von Möglichkeiten, Prozesse in Gruppen zu analysieren, zu bearbeiten und zur Bewusstseinsbildung und konstruktiven Weiterentwicklung von Gruppen beizutragen.

Hintergrund

Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, so ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“ (Don Helder Camara)

Wir wissen aus eigener Erfahrung: Wenn viele zusammen träumen, kann dies ein wichtiger Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft – der Beginn einer neuen Wirklichkeit – sein. Erfolgreiche Projekte bürgerschaftlichen Engagements, von „Pionieren des Wandels“, sind meist Projekte, an denen viele Menschen in ihrer Freizeit mitwirken. Und oft erleben wir, wie Projekte mit anfänglicher Begeisterung zahlreicher Menschen wundervolle Ideen entwickeln, ohne je zu einem gebündelten Fokus und in die Realisierungsphase zu kommen; oder sie blühen kurz auf und verwelken bald wieder, ohne einen nachhaltigen Einfluss auf die Gesellschaft zu entwickeln. Einige aber sind wirklich nach-haltig, und haben Konsequenzen, wie sie Margret Mead mit ihrer Aussage beschreibt:

Zweifele nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Bürger die Welt verändern kann.
Tatsächlich ist das das Einzige, was je die Welt verändert hat.

Was macht den Unterschied aus? Wann gelingen gemeinschaftliche Projekte, die einen Beitrag zum Wandel in der Welt leisten wollen – sei es eine Bürgerinitiative, ein Wohnprojekt, eine BürgerEnergieGenossenschaft oder eine Nachbarschaftsinitiative? Wann schaffen sie es, wirklich einen Beitrag zur „großen Transformation“ zu leisten? Wie wird gemeinschaftliche Projektentwicklung zu einer Bereicherung für jede und jeden Einzelnen und zu einem wirklichen Beitrag zum Wandel?

Das Modell

Der „Gemeinschaftskompass“ ist entstanden aus der Erfahrung von zwei Gründer*innen und Aktiven des Ökodorfs Sieben Linden (www.siebenlinden.org), sowie aus der Reflektion von vielen Jahren Tätigkeit als Berater*in und Begleiter*in für Gemeinschaftsprojekte.
Das Ergebnis ist eine kurze Darstellung der Essenz, welche Aspekte wichtig sind, um gemeinschaftliche Projekte erfolgreich und nachhaltig zu entwerfen und um sie dauerhaft und erfolgreich umzusetzen. DerGemeinschaftskompass identifiziert sieben Aspekte, die dafür grundlegend sind. Diese sieben Aspekte dienen als Gedächtnisstütze und Leitlinie, als Ansatzpunkt zum Austausch über das Projekt, zur Systematisierung, zur Analyse und als Diagnosetool, um Probleme, Interventionsschritte und Entwicklungspotential herauszuarbeiten.

Sieben Aspekte

Die sieben Aspekte, die wesentlich sind, um gemeinschaftliche Projekte gelingen zu lassen, sind: Individuum, Gemeinschaft, Intention, Struktur, Praxis, Ernte und Welt.

Unsere Grund-Annahme ist, dass erfolgreiche gemeinschaftliche Projekte Aufmerksamkeit, Kompetenz und bewusste Fokussierung auf all diese sieben Aspekte brauchen.

Die Dualität der Individuen in der Gemeinschaft nimmt dabei eine zentrale Stellung ein.

Alle Aspekte sind wichtig und beeinflussen sich gegenseitig, *aber Schwächen in den anderen Aspekten als Individuen und Gemeinschaft können für manche Projekte unwesentlich sein oder kompensiert werden, wohingegen Schwächen in den Bereichen Individuen und Gemeinschaft fast unweigerlich das Projekt als Ganzes nachhaltig schwächen.

Es ist der Schlüssel für den Erfolg von gemeinschaftlichen Projekten, dass die individuelle Entfaltung und die Gemeinschaft sich nicht als Gegensätze gegenüberstehen, sondern sich gegenseitig ergänzen und stärken. Wie gelingt Gemeinschaft als Zusammenschluss von lauter Individuuen? Was ist Gemeinschaft im 21. Jahrhundert? Wie können wir im Miteinander optimal die Stärken der Individuen entwickeln, unterstützen und nutzen? Wie können Trennung und Konflikt, individuelle und kollektive Krisen konstruktiv wahrgenommen und gelöst werden? Wie kann Gemeinschaft individuelles Wachstum fördern?

Das sind zentrale Fragen, wenn die Dualität von Individuen in Gemeinschaft sich entfalten soll. Durch ein Gelingen des Zusammenspiels von Individuen und Gemeinschaft gewinnen die Akteure eines Projektes Zufriedenheit und Verbundenheit und werden motiviert für ein Dranbleiben. Das Projekt strahlt aus und hat so eine stärkere Wirkung und mehr Erfolg.

Aber: dieses Zusammenspiel gelingt nicht von selbst – es braucht bewusste Aufmerksamkeit und Pflege, in allen Phasen des Projektes und bei der Bearbeitung aller anderen Aspekte

Das sieben Aspekte genauer beleuchtet

Individuen

Eine blühendes gemeinschaftliches Projekt beruht ganz wesentlich auf bewussten „Individuen“, die sich ihrer Selbst, ihrer Rolle im Ganzen und ihrer Verantwortung für sich selbst und das Miteinander bewusst ist. Ohne Respekt und Aufmerksamkeit für die Individuen – nicht nur als Rädchen in dem Ganzen, sondern auch mit ihrer Einzigartigkeit – und ohne bewusste Aufmerksamkeit der Individuen für das Ganze und ihre Rolle darin ist es schwer, ein gemeinschaftliches Projekt wirklich zum Blühen zu bringen.

Eine Gemeinschaft kann auf Dauer nur funktionieren, wenn die Individuen sich darin genügend wohlfühlen, einen Sinn in ihrer gemeinschaftlichen Arbeit erfahren, sich gegenseitig wahrnehmen und unterstützen. Die Gemeinschaft entwickelt sich dann weiter, wenn die Individuen „innerlich wachsen“, also ihr (Selbst-) Bewusstsein und ihre Handlungskompetenzen weiterentwickeln. Eine Gemeinschaft kann einen wesentlichen, intensiven Erfahrungsraum für persönliche Bewusstseinsentwicklung bieten, wenn sie sich darauf ausrichtet und einen entsprechenden Umgang miteinander pflegt.

Dafür braucht es Individuen, die sich bewusst auf einem persönlichen Lern- und Wachstumsweg befinden, die die Schwierigkeiten, denen sie bei der Realisierung gemeinschaftlicher Projekte begegnen, nicht nur als Widrigkeiten wahrnehmen, sondern auch als Erfahrungen und Lernchance.

Es braucht Individuen, die sich ihres persönlichen Hintergrundes, der „Päckchen“, die sie mit sich rumschleppen, und die ihre Reaktionen beeinflussen, bewusst sind. Menschen, die ihre Bedürfnisse reflektieren können, für sie einstehen, und gleichzeitig akzeptieren, dass alle Menschen ähnliche Grundbedürfnisse haben, und dass wir Wege finden wollen, in denen die Bedürfnisse aller geachtet sind.

Gemeinschaft

Im „Gemeinschaftskompass stehen Individuen und Gemeinschaft in einem dualistischen Zusammenhang. Gemeinschaft ist nicht denkbar ohne Individuen, in gemeinschaftlichen Projekten können Individuen nicht sein, ohne dass die Gemeinschaft sehr bewusst für ihren Platz sorgt.

Wie gelingt Gemeinschaft als Zusammenschluss von lauter Individuuen? Was ist Gemeinschaft im 21. Jahrhundert? Wie können wir im Miteinander optimal die Stärken der Individuen unterstützen und nutzen? Wie können Trennung und Konflikt, individuelle und kollektive Krisen konstruktiv wahrgenommen und gelöst werden? Wie kann Gemeinschaft effektiv gestaltet werden ?

Dies sind Fragen, die zum Aspekt „Gemeinschaft“ gehören und hier angeschaut werden müssen.
Eine Gemeinschaft von Individuen „auf Augenhöhe“, und ein Umgang, der von Respekt vor Anderen geprägt ist, der Andersdenkende als eine Chance für Neuerkenntnis und nicht als Bedrohung wahrnimmt, dies prägt die „aufgeklärten“ Gemeinschaften, die wir ins Zentrum unserer Betrachtung stellen.


Um Gemeinschaften aufzubauen, die dies vermögen, ist es wichtig, Gemeinschaft sehr bewusst zu pflegen, sich Zeit und Raum für die Gemeinschaftspflege zu nehmen. Dies erscheint erstmal eine Banalität, aber es ist erstaunlich, wie oft das in der Realität derartiger Projekte vergessen wird, wie oft davon ausgegangen wird, dass die Gemeinschaft sich von selbst durch das Zusammen-Sein und -Arbeiten der Menschen ergibt.

Und diese Annahme hat auch ihre Berechtigung – eine Art von Gemeinschaft ergibt sich auch ohne bewusste Gemeinschaftspflege. Wenn wir jedoch eine wirklich starke, motivierende und resiliente Gemeinschaft aufbauen wollen, ist eine bewusste Gemeinschaftspflege unumgänglich.

Dazu gehört als erstes der Aufbau einer bewussten Kommunikationskultur, in der es möglich ist, dass die Menschen sich als ganze Menschen, mit ihren Stärken und Schwächen zeigen können und nicht nur mit ihrer polierten Fassade, die wir im professionellen Alltagsleben oft zeigen.

Es braucht eine Kultur des Respekts und des Wohlwollens vor den Unterschiedlichkeiten der verschiedenen Menschen, die sich gut durch Räume schaffen lässt, in denen ein tiefer Austausch möglich ist. Wenn wir verstehen, was hinter den scheinbar schrulligen Verhaltensweisen unserer Kollegen steht, können wir deutlich leichter damit umgehen.

Wenn eine derartige Kultur geschaffen ist, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einer konstruktiven Konfliktkultur, in der ganz bewusste Wege vorhanden sind, um mit Konflikten umzugehen. Eine Gemeinschaft, in der Individuen auf Augenhöhe miteinander umgehen wollen und sich gegenseitig Raum zur Entfaltung ihres Selbst geben wollen, braucht es auch einen sehr bewussten Umgang mit Fragen nach Macht und Rang. Damit meinen wir keine Gleichmacherei oder Zügelung der Menschen mit hoher Gestaltungskraft und Gestaltungswillen, wie es öfters in egalitären Projekten zu erleben ist, sondern ein bewusster Umgang mit diesen Fragen sollte dazu führen, dass die Starken und Kompetenten die Möglichkeit haben, ihre Stärke und Kompetenz voll einzubringen, aber dabei gleichzeitig auch andere Menschen, die Unterstützung brauchen, in ihre Stärke zu führen, bis idealerweise in einer Gruppe jede*r Einzelne in einem Bereich voll seine / ihre Stärke einbringen kann und Entscheidungsmacht hat.

Intention

Um ein gemeinschaftliches Projekt erfolgreich zu realisieren, ist eine klar formulierte gemeinsame Intention eine wesentliche Grundvoraussetzung. Oft wird implizit vorausgesetzt, dass alle unter der gleichen Überschrift dasselbe verstehen, und erst spät wird klar, wie unterschiedlich die Träume und Vorstellungen der einzelnen Projektteilnehmer überhaupt sind.

Eine gemeinsame Ausrichtung als verbindendes und motivierendes Element explizit machen, und damit eine Grundlage für alle zukünftige Arbeit legen ist wesentlich für das Gelingen jedes größeren Projektes.

Der Aspekt der „Intention“ hat verschiedene Unterpunkte.

Dazu gehört eine kurz gefasste, aber weite Vision vom Ziel des Projektes (etwa: Ein Dorf für ca. 300 Menschen, in dem alle Lebens- und Arbeitsbereiche ökologisch und sozial nachhaltig organisiert sind), aber auch ganz konkrete Festlegungen, wie der Weg, sich diesem Zustand anzunähern, gegangen werden soll – welche Vereinbarungen dafür wichtig sind. Eine tiefe Auseinandersetzung über die eigenen Werte und Hintergründe gehört zur Arbeit am Aspekt Intention dazu und kann gleichzeitig sowohl zur persönlichen Bewusstseinsbildung wie zur Gemeinschaftsbildung beitragen.

Idealerweise steht am Ende der Arbeit am Aspekt „Intention“ sowohl eine kurze, knackige Darstellung eines gemeinsamen Zieles, wie auch eine ausführliche Beschreibung der Frage, wie und mit welchen Basis-Vereinbarungen und Werten man sie erreichen möchte.

Wichtig ist hier, nicht nur bei Worthülsen stehenzubleiben, sondern wirklich dahinter zu schauen. So versteht der eine unter „ethisch-ökologischer Ernährung“ eine vegane, regionale Ernährung, der nächste darunter Fleisch von glücklich gehaltenen alten Haustierrassen und der dritte rohköstliche Ernährung aus ÖkoAnbau in Afrika.

Besonders bedeutsam ist die Arbeit am Aspekt „Intention“ in der Gründungsphase eines Projektes. In dieser Phase wird herausgearbeitet, was das allgemeine Ziel ist, was es alles umfassen könnte, und welche Erwartungen an die Mitglieder gestellt werden, bzw. welche Festlegungen für das Projekt getroffen werden.

Es macht das Projektmanagement deutlich einfacher, wenn das Projektziel in einem Satz formuliert ist, der für das Projekt so lebendig ist, dass jedes Projektmitglied auf die Frage: „Was wollt Ihr eigentlich hier?“ mit diesem Satz antworten kann. Und auch, wenn zu einigen Fragen, die häufig zu Streitigkeiten in Projekten führen, und für die es nur individuelle Lösungen gibt, von Anfang an klare Festlegungen getroffen werden (zum Beispiel Tiere, Ernährung, Verpflichtungen der Einzelnen, Vorgaben für Lebensstil, etc.)

Struktur

Strukturelle Fragen haben langfristig einen sehr starken Einfluss auf die Entwicklung eines Projektes. Die Frage nach der Rechts- und Eigentumsform, den Grenzen der Gruppe, Gestaltung von Teamtreffen, Entscheidungsstrukturen und Arbeitsverteilung haben einen entscheidenden Einfluss auf Erfolg oder Schwierigkeiten in Projekten.

Wichtig ist, dass Gruppen die für sie passenden Strukturen entwickeln und ein Bewusstsein dafür ausbilden, welche Bedeutung Strukturen haben und wie wichtig es ist, diese Strukturen immer wieder zu reflektieren und der gelebten Realität des Projektes anzupassen. Denn die festgelegte Gruppenstruktur geht Hand in Hand mit der gelebten Gruppenkultur, die wiederum von der Struktur geprägt wird.

Wir dürfen jedoch nie unterschätzen, wie stark Strukturen Gruppen prägen. Manche Gruppen sind aus diesem Grund sehr skeptisch gegenüber Stukturen und versuchen, alles spontan und aus dem „Fluss“ heraus zu machen. Allerdings führt dies in der Regel zu impliziten Strukturen, die einen stärkeren und weniger kontrollierbareren Einfluss haben als explizite Strukturen. Implizite Strukturen prägen Gruppen noch stärker und vor allem unveränderbarer als explizite Strukturen. Explizite Strukturen sind irgendwo formuliert und nachlesbar, und sie können durch Beschlüsse verändert werden.

Und die Strukturen werden sich im Laufe der Projektdauer verändern müssen: Während zu Anfang eines Projektes die Grenzen der Gruppe oft sehr durchlässig sind und sein sollten, braucht ein Gemeinschaftsprojekt, das langfristig gemeinsam leben will, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Klarheit darüber, wer die Menschen sind, die wirklich verbindlich dabei sind, und die Entscheidungen trifft, und wer lediglich mal reinschnuppert.

Während es für Anfangsgruppen ein wichtiges gemeinschaftsbildendes Element ist, zu vielen Punkten mit viel zeitlichem Aufwand einen gemeinsamen Gruppen-konsens zu entwickeln, so kommt mit zunehmender Komplexität des Projektes und Zeitdauer des Zusammen-lebens und -arbeitens oft der Punkt, wo festgestellt wird, dass Delegation von Entscheidungen und niedrigere Hürden für Entscheidungen für Gruppe und Projekt die sinnvollere Alternative sind.

Ein ganz wesentlicher Aspekt von Struktur ist die Frage nach den Organisations- und Rechtsformen. Sie prägen ein Projekt sehr und sind langfristig beständiger als viele soziale Strukturen. Daher ist es bei langfristigen Projekten in der Gründungsphase extrem wichtig, einen besonderen Fokus auf diese Strukturen zu haben und eine Rechtsform zu wählen, die zu den eigenen Werten passt.

Oft gehen idealistische Anfangsgruppen davon aus, dass ihre informellen Verabredungen und Vertrauen ineinander ausreichen, um langfristig eine stabile Basis zu haben, und sie vernachlässigen die Frage nach der passenden Rechtsform für das Immobilieneigentum. Aber was schon in Ehen oft nicht funktioniert, ist in größeren Gruppen noch weniger wahrscheinlich über Jahrzehnte erfolgreich – daher ist eine der wesentlichen Hinweise für Gemeinschaftsgründung: Gemeinschaftlicher Besitz braucht eine gemeinschaftliche Rechtsform! Genossenschaften sind dafür oft die geeignetste Rechtsform, aber auch Vereine, GmbHs, Wohneigentümergemeinschaften können sinnvolle Alternativen sein.

Eine Stiftung ist dann eine interessante Rechtsform, wenn die ideelle Ausrichtung absolut im Vordergrund steht, und das eingebrachte Kapital langfristig für diese Ausrichtung investiert wird, und nicht an die Projektaktiven zurückgezahlt wird.

Praxis

Das Themenfeld „Praxis“ ist das Feld, in dem die Visionen und Pläne konkret umgesetzt werden.

Hier geht es um das konkrete Projektmanagement, den gesamten Bereich des konkreten Tuns. Es ist der komplexeste Bereich, und doch der Bereich, zu dem im Gemeinschaftskompass am wenigsten gesagt wird, weil es hierfür ganz andere Experten braucht.

Viele Initiativgruppen kranken daran, dass sie aus vielen Menschen bestehen, die gerne Träume teilen, Strukturen entwickeln und die Gemeinschaft pflegen, aber zur Umsetzung gehört noch ein anderer Typ Mensch. Der Praktiker!

Und – so wichtig wie die Fähigkeiten in den anderen Aspekten sind – die Kompetenzen in den ganz praktischen Arbeitsbereichen sind für Projekte ebenfalls unerlässlich.

Ebenfalls zum Aspekt „Praxis“ zählen wir alle Fragen rund um Geldflüsse: Wie wird das Projekt finanziert, instandgehalten, wie kommt Geld in das Projekt, wie wird es verteilt?

Ernte

Oft brennen Projektengagierte schnell aus, da Projekte starken Einsatz fordern und nicht immer viel „zurückkommt“.

Gerade in Projekten des bürgerschaftlichen Engagements, in denen sich alle ehrenamtlich engagieren, ist es häufig so, dass immer unterschiedliches Engagement vorhanden ist, und immer wieder bei einzelnen Engagierten der Eindruck aufkommt, Andere würden nicht genügend tun und dadurch Frust und Unzufriedenheit aufkommt.

Das Themenfeld „Ernte“ richtet die Aufmerksamkeit auf das, was erreicht wurde. Es geht um Innehalten und Wahrnehmen des Zustandes des Projektes. Würdigung jedes Engagements, und Wertschätzung für alle unterschiedlichen Rollen gehören zum Themenfeld „Ernte“.

Ein wesentlicher Teil ist das „Feiern“ dessen, was bereits erreicht wurde, das Würdigen der Erfolge und auch der Mißerfolge – als eine Lernchance, für die Zukunft etwas zu verändern. Hierzu gehört auch Wertschätzung und Würdigung der einzelnen Akteure, denn nur Menschen, die sich für ihre Arbeit gewertschätzt fühlen, werden sich längerfristig engagieren. Diese Wertschätzung kommt in Projekten, die sich viel vorgenommen haben, oft zu kurz. Aufmerksamkeit auf den Aspekt der Wertschätzung, der Würdigung, trägt sie wesentlich zu einem positiven Gemeinschaftsklima bei und beugt dem Burn-out von Aktivisten vor.

Zum Aspekt „Ernte“ gehört jedoch nicht nur das Feiern, sondern auch das Auswerten von Erfahrungen: Durch die Reflektion, die Auswertung des Geschehenen trägt er zur ständigen Kompetenzerweiterung und Anpassung der Strategien bei und damit zum Erfolg des Projektes.

Fragen, die in dieses Themenfeld hereinreichen, sind Fragen wie: Was haben wir aus der bisherigen Projekterfahrung gelernt? Was können wir optimieren? Wie können Synergieeffekte erzeugt werden? Wie kann man aus vermeintlichen „Gegenspielern“ in Behörden oder dem Umfeld „Verbündete“ machen?

Welt

Kein gemeinschaftliches Projekt existiert als Insel – unsere Projekte sind stets eingebettet in die Welt, die sie umgeben. Projekte, die etwas verändern wollen in der Welt, tun gut daran, sich dessen bewusst zu werden und sich sehr bewusst in den gesellschaftlichen Kontext zu stellen und dort Synergieeffekte und Unterstützung zu suchen.

Das Achten auf den Aspekt „Welt“ hat verschiedene Facetten:

  • Die aktive Suche nach Verbündeten und Netzwerkpartnern.
  • Die Offenheit dafür, wahrzunehmen, was die Gesellschaft um uns herum braucht, und was wir einbringen können,
  • Wege, wie wir das Vertrauen von Nachbarn und Entscheidungsträgern gewinnen können.
  • Die bewusste Öffentlichkeitsarbeit.
  • Konstruktive Zusammenarbeit mit Ämtern und Entscheidungsträgern.

Wenn ein Projekt erfolgreich sein will, ist es wichtig, auf die eigene Außenwirkung zu achten. Je nach Zielsetzung des Projektes kann dieses „Achten“ ganz unterschiedliche Ausprägungen haben.

Verbündete und Netzwerkpartner, vertrauensvolles Verhältnis mit möglichst vielen „Stakeholdern“ sind ungeheuer wertvolles „Kapital“ für jedes Projekt. Krisen, Verleumdungen, unerwartete Finanzengpässe und andere schwierige Herausforderungen können oft nur mit einem starken Netzwerk gemeistert werden.

Ein Projekt, das es schafft, nicht nur zu Gleichgesinnten gute Netzwerkkontakte zu knüpfen, sondern ihr Netzwerk darüber hinaus zu erweitern, ist ungleich besser aufgestellt als Gruppen, die sich selbst genug sind oder mit ihren Netzwerken nur im eigenen Saft schmoren.

Ein wesentlicher Schlüssel sind da oft die direkten Nachbarn – wenn die Nachbarn davon überzeugt sind, dass eine Gruppe „etwas vernünftiges“ macht, dann spricht sich das nach und nach in der Region herum. Wenn die Nachbarn zu dem Schluss kamen, dass einer Gruppe nicht zu trauen ist, dann wird das langfristig die Projektentwicklung behindern.

Auch Entscheidungsträger – Bürgermeister*in, Gemeinderäte, Verwaltungsbeamte und andere wesentliche „Stakeholder“ sind wesentliche Netzwerkpartner. Hier – wie im Umgang mit allen anderen Menschen – gilt die immer wieder vergessene Regel: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus! Je stärker wir auf diese Menschen als potentielle Partner, die uns bei der Realisierung unserer Pläne unterstützen könnten, zugehen, je stärker werden sie uns auch unterstützen.

Anwendungsbeispiele des Gemeinschaftskompass

Leitlinie für Projektgründung und -entwicklung

Ein wesentliches Anwendungsbeispiel ist die Nutzung des Kompass als Leitlinie in der Projektgründung, Projektentwicklung und Projektsupervision. In der Gründungsphase kann der Kompass auch als Phasenmodell betrachtet werden, und die Reihenfolge: Individuen – Gemeinschaft – Intention – Struktur – Praxis – Ernte kann als Richtschnur für ein Nacheinander der Schwerpunkte verschiedener Arbeitsschritte genommen werden. (Siehe auch Artikel: Projektgründung mit dem Gemeinschaftskompass) Wobei die drei Aspekte „Individuen“, „Gemeinschaft“ und „Welt“ als wesentliche Handlungsebenen in allen Phasen im Blick behalten werden sollen, und ein besonderer Schwerpunkt gerade in der Gründungsphase auf die Dualität der Individuen in Gemeinschaft gelegt werden sollte – denn die Gemeinschaftskultur der Gründungsgruppe prägt die spätere Gruppenkultur sehr stark. Daher ist gerade in dieser Zeit ein aktiver, ständiger Fokus auf das Miteinander ganz besonders wichtig.

Nicht nur in der Gründungsphase ist der Kompass eine wichtige Orientierungshilfe. Auch bei jedem Teilprojekt, das angegangen wird, oder in jeder Situation, wo die Gruppe sich selbst reflektieren und weiterentwickeln will, kann der Kompass wichtige Denkanstöße geben und zur Systematisierung der Erfahrungen beitragen.

Diagnosetool

Um Projekte erfolgreich umzusetzen, braucht es einen Fokus auf alle Aspekte des Kompass. Daher kann der Kompass als sehr hilfreiches Diagnosetool für die Arbeit mit Projektgruppen dienen: Wo liegen die Stärken der Gruppe, wo gibt es Schwächen?

Der Kompass kann sowohl eher intuitiv und qualitativ eingesetzt werden, um sich mit dem Wissen um die sieben Aspekte ein Bild von den Stärken und Schwächen der Gemeinschaft und der Gruppenmitglieder zu schaffen, als auch systematisch mithilfe des Fragebogens „Standortbestimmung mit dem Gemeinschaftskompass“.

Beispiel für Supervisionsarbeit mit dem Gemeinschaftskompass

Als ersten Schritt können die Gruppenmitglieder ihre eigenen Stärken und Schwächen in der Kompass-Systematisierung einordnen und sich evtl. auch Feedback ihrer Kollegen dazu einholen. So dient der Kompass der Stärkung des Bewusstsein der Individuen über ihre Stärken und Schwächen

In einem zweiten Schritt können die Ergebnisse unter verschiedenen für die Gruppe relevanten Fragestellungen analysiert werden:

  1. Die Stärken, die die Einzelnen mitbringen – sind sie ausgewogen verteilt oder gibt es Aspekte für die niemand Kompetenzen mitbringt? Und werden diese Aspekte trotzdem gut ausgefüllt oder fehlt da etwas?
  2. Lässt Gruppe die Individuen diese Stärken auch einbringen oder ob gibt es Menschen, die an Positionen stehen, wo sie ihre Stärken gar nicht ausleben können? Braucht es da Veränderung?

Standortbestimmung mit dem Gemeinschaftskompass

Es gibt ein Online-Tool, einen Fragebogen, mithilfe dessen Gruppen auf ihre Stärken und Schwächen in den sieben Aspekten analysiert werden können. Dieser Fragebogen nennt sich „Standortbestimmung mit dem Gemeinschaftskompass“. Mit diesem Tool wird die Gruppe auf ihre Stärken und Schwächen in den sieben Aspekten untersucht und es ergibt sich eine quantitative Einschätzung, wie ausgeprägt die einzelnen Aspekte in der untersuchten Gruppe sind.

Dieses Tool kann auch mit Blick auf seine quantitative Ergebnisse genutzt werden, aber noch wichtiger als diese Ergebnisse – die stets sehr stark von den Menschen abhängen, die das Tool ausfüllen – ist der Prozess, wie eine Gruppe zu den Antworten auf die Fragen zu den verschiedenen Aspekten kommt. Aus dem Prozess kann man eine Vielzahl von Hinweisen auf die Situation der Individuen in Gemeinschaft ziehen, die oftmals für den weiteren Prozess viel nützlicher sind als die quantitative Einschätzung der Gruppe. (Siehe Artikel „Standortbestimmung mit dem Gemeinschaftskompass“.)

Gruppendynamik / Perspektivveränderung bei Konflikten

Der Kompass kann weiterhin ein wesentliches Hilfsmittel sein, um Teil der Gruppendynamik einer Gruppe und manche Konflikte zu erklären und evtl. zu entschärfen.

Häufig entstehen Konflikte zwischen Menschen mit Stärken auf unterschiedlichen Seiten des Modells. Die Menschen, denen die Ernte und das Feiern wichtig ist, verstehen nicht, warum das Einhalten von bestimmten Strukturen wesentlich ist und ärgern sich über diejenigen, die das einfordern und umgekehrt. Die Visionäre, mit dem Kopf in den Wolken, ärgern sich über diejenigen, die darauf beharren, dass die konkrete Basisarbeit jetzt relevanter ist als der Blick auf das große Ziel. Die Beschäftigung mit Rechtsformen ist für viele, die gerne das Miteinander pflegen, eher ein Graus, und umgekehrt ist es für Menschen, die gerne auf die praktische Arbeit schauen, oft unfassbar, wieviel Zeit mit Gemeinschaftspflege verbracht werden kann, ohne dass etwas konkret getan wird.

Wenn deutlich ist, dass ein erfolgreiches Projekt einen Fokus auf alle Themen braucht, und dass Menschen unterschiedliche Stärken in diesen Aspekten haben, und dass diese Unterschiedlichkeiten gleichzeitig die Wurzel von vielen Konflikten sind – dann kann dieses Bewusstsein dazu helfen, Konflikte anders einzuordnen und mehr Bereitschaft zu entwickeln, die anderen in ihrer Unterschiedlichkeit anzunehmen und ihren Beitrag als wertvoll für das Projekt wertzuschätzen.

Inspiration für Rollen im Projekt

Der Kompass kann auch Inspirationsquelle für die Verteilung von Rollen im Projekt oder in Gründungsinitiativen sein. So könnte konstruktiv mit den Unterschiedlichkeiten umgegangen werden, indem „Hüter*innen“ für die sieben verschiedenen Aspekte benannt werden.

Rahmen für Trainings für Projektaktive

Wir nutzen in unserer Arbeit den Kompass als Rahmen für Trainings und Seminare für Menschen, die gemeinschaftliche Projekte umsetzen wollen. In diesen Trainings wird sowohl der Kompass als Inspiration für Schritte und Gruppendynamik vorgestellt, wie auch exemplarisch Methoden für alle Aspekte des Kompass.

In der Regel durchschreiten wir in den Trainings alle Aspekte, und geben insbesondere Beispiele für Methoden, die Gemeinschaftspflege und einzelne „Projektaspekte“ Intention, Struktur, Arbeit und Ernte miteinander verbinden.

In allen Einheiten der Trainings wird immer wieder ein Rückbezug zum Kompassmodell als Ganzes gemacht, und gleichzeitig werden Methoden erfahrungsbezogen kennengelernt und Erfolgsgeschichten aus den Projekten der Teilnehmenden ausgetauscht.

Individuelle Arbeit

Der Kompass eignet sich – mit kleinen Anpassungen – auch für ganz individuelle Projekte. So können Menschen für ihre individuellen Projekte untersuchen, ob sie alle Aspekte bedacht haben, und wo ihre Stärken und Schwächen sind, wo sie vielleicht noch Unterstützung brauchen.

Die Handlungsebene „Gemeinschaft“ kann für individuelle Projekte genutzt werden, um über Unterstützungs- oder Synergieeffekte nachzudenken, die dieses individuelle Projekt durch Zusammenarbeit mit anderen haben könnte. Es fällt dann fast zusammen mit der Handlungsebene „Welt“.

Lust auf mehr Information über den Gemeinschaftskompass?

Inzwischen gibt es zwei Bücher zum Gemeinschaftskompass.

Das Buch “Der Gemeinschaftskompass – eine Orientierungshilfe für kollektives Leben und Arbeiten” ist 2021 erschienen und eine ausführliche Einführung in das Modell, mit vielen Beispielen und Vertiefungen für Lebensgemeinschaften und Wohnprojekte.

Das Buch “Gemeinsam die Welt verändern – aber wie?” verbindet eine kürzere Einführung in den Gemeinschaftskompass mit ausführlichen methodischen Überlegungen und Methoden. In diesem Buch kommen die Beispiele aus einer Vielzahl von unterschiedlichen “Wandel-Initiativen”, die einen konstruktiven Beitrag für eine zukunftsfähige Gesellschaft leisten wollen.

Beide sind erhältlich über den www.eurotopiaversand.de